Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2018
von Angela Klein

Science fiction hat für meinen Geschmack oft den Nachteil, dass sie negative technische und gesellschaftliche Entwicklungen in eine Zukunft projeziert, von der man weiß, dass es sie so nicht geben wird. Damit rücken uns solche Beschreibungen aber auch nicht so nah auf den Pelz, denn in der Mehrzahl der Fälle können wir sagen: «In solchen Verhältnissen leben wir nicht und sie sind auch nicht absehbar.»

Der Roman Zero von Marc Elsberg, den ich während meines Krankenhausaufenthalts zu lesen bekam, um mir die Zeit zu verkürzen, hat den großen Vorzug, dass er im Hier und Jetzt spielt, an technischen und unternehmerischen Entwicklungen anknüpft, die wir kennen, sie nur ein bißchen weiter spinnt und miteinander verknüpft, sodass ein ganz reales Horroszenario entsteht, das in unseren Verhältnissen spielt und deshalb umso bedrohlicher ist.

Es geht darum, was Datensammelwut, der Wunsch nach Macht durch absolute Kontrolle, das Zusammenspiel (und Gegenspiel) von privaten Konzernen und staatlichen Sicherheitsdiensten, aber auch die Fixierung jedes Einzelnen auf seine persönliche Optimierung, der Herdentrieb, die Lust an der Treibjagd – wie auch das Gegenteil, das Sich-Widersetzen – anrichten können, wenn entsprechende Umstände zusammenkommen.

Wahrscheinlichkeit und Sicherheit

Über den beklemmenden Realismus des Szenarios hinaus enthält das Buch auch die tröstliche Botschaft, dass Gegenwehr möglich ist. Und indem es die Verselbständigung von Computerhandeln erklärt, entmystifiziert es dieses auch. Denn das, was dem Menschen als eine von ihm entworfene und hergestellte, sich nun verselbständigende Maschinerie entgegentritt, die vorgibt, ihn besser zu kennen als er sich selbst, die seine Schritte und Entscheidungen vorhersehen kann und ihn damit vollständig planbar macht, sind bei näherem Hinsehen nichts anderes als Algorithmen, die Wahrscheinlichkeiten berechnen: Bei Computern, die das Verhalten von Menschen steuern wollen, ist es die Wahrscheinlichkeit, mit der diese bestimmte Schritte tun, bei Computern, die Gedichte schreiben, ist es die Wahrscheinlichkeit, dass ein Buchstabe auf den nächsten folgt, usw.

Dass Menschen bestimmten Verhaltensmustern folgt, die diese berechenbar machen, wenn die Datenbasis nur groß genug ist, wusste schon Carl Friedrich Gauß, der geniale Mathematiker des frühen 19.?Jahrhunderts. Gauß hat Listen über die Lebenserwartung berühmter Männer geführt und die Witwen- und Waisenkasse der Göttinger Universität verwaltet. Er legte u.?a. die Grundlagen zur Versicherungsmathematik.

Wahrscheinlichkeit ist aber keine Sicherheit. Es bleibt ein Rest an Unberechenbarkeit, weil das einzelne Individuum sich anderes verhalten kann als die große Zahl. Die spannende Frage nun, die das Buch aufwirft, doch nicht mit derselben Präzision zu beantworten weiß wie die nach dem Funktionieren sog. intelligenter Maschinen, lautet: Wie lässt sich Unberechenbarkeit steuern? Anders gefragt: Wie weiß ich, mit welchen Schritten ich mögliche Vorhersagen des Computers austricksen kann? Theoretisch lautet die Antwort: Das kann man nicht wissen, denn eine planbare Unberechenbarkeit ist ein Widerspruch in sich. Praktisch verhält es sich jedoch anders. Praktisch wird das Verhalten von einer unendlichen Vielfalt von Faktoren beeinflusst, die von einer Datenbank nicht alle erfasst werden können und auch dem Individuum selbst nicht alle bewusst sind. Das ist die Grenze der Vorhersagbarkeit. Der Nachteil jeder Statistik ist, dass sie immer nur im nachhinein erhoben werden kann. Die einfache Verlängerung eines vergangenen Verhaltensmusters in die Zukunft ist jedoch grundsätzlich mit Fehlern behaftet, wie man von Wettervorhersagen weiß. In dieser Unberechenbarkeit liegt das Leben, die Unsicherheit – und die Freiheit des Menschen. Widerständiges Handeln kann berechenbar sein, ist es aber umso weniger, je mehr es nicht die Sache kleiner Zirkel, sondern großer Menschenmassen ist.

Was es alles schon gibt

Die deutsche Erstausgabe von Zero erschien im Mai 2014. Zum selben Zeitpunkt gab Facebook, das weltweit größte soziale Netzwerk, bekannt, schon 2012 in einem Experiment heimlich die Emotionen von rund 800.000 seiner User beeinflusst zu haben, indem ihre Timeline in bestimmte Richtungen manipuliert wurde – im Prinzip genau das, was ein großes Datensammelunternehmen in Zero macht und was der rote Faden der Geschichte ist.

«Seit 2014 versuchen vermehrt neue Onlinedienste, das Geschäftsmodell der persönlichen Datenmonetarisierung zu etablieren», schreibt der Autor im Nachwort und macht damit deutlich, dass sein Plot nicht allein seiner Fantasie entsprungen ist, sondern auf realen Entwicklungen beruht. «Die Fortschritte bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz rücken Zeros Gedankenspiele in greifbare Nähe … Datenbrillen gehören in immer mehr Berufen zum Arbeitsalltag und erleben gerade ihren zweiten Entwicklungsfrühling als Konsumentenprodukt. Alle beschriebenen Technologien werden bereits eingesetzt, ebenso wie die erwähnten Polizeieinrichtungen in London und New York.»

Der Autor des Buches verteidigt die Privatsphäre als den Bereich, in dem der Einzelne Macht ausüben kann. Sie zu respektieren ist für ihn die Bedingung von Demokratie. «Für den herrschenden Machthaber ist Privatsphäre für alle daher eine Bedrohung. Autoritäre Regime wussten das immer.»

Marc Elsberg: Zero. Sie wissen, was du tust. München: Blanvalet, 2014. 495 S., € 9,99

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