Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2018
Was die Klassenlage bestimmt
von Manuel Kellner

In der bürgerlichen Soziologie und Statistik gilt die Kategorie «Arbeiterinnen und Arbeiter» als Bezeichnung für eine Minderheit und dazu noch schwindende gesellschaftliche Größe. Rinnt uns also unser – potenziell – «revolutionäres Subjekt» durch die Finger? Bilden nicht auch nach Ansicht von Karl Marx nur die «produktiven Arbeiterinnen und Arbeiter» der Industrie das Proletariat?

Für Marx war «produktive Arbeit» Arbeit im kapitalistischen Unternehmen – Arbeit, die Mehrwert hervorbringt, der durch den Verkauf des Endprodukts realisiert wird. Die Beschäftigten übertragen den ganzen Arbeitstag über den Wert der Rohstoffe und der sich abnutzenden Maschinen auf das Endprodukt. Zugleich schaffen sie neuen Wert, einen Teil des Tages den Gegenwert ihrer eigenen Reproduktionskosten, des Arbeitslohns, und im weiteren Verlauf des Arbeitstags Wert darüber hinaus, den Mehrwert. Nur so kann das investierte Kapital sich vermehren, vorausgesetzt, auf allen Märkten herrscht gleicher Tausch vor.

Die Zitate am Ende dieses Artikels zeigt, dass die Teilnahme der Beschäftigten an der Mehrwertproduktion für Marx in keiner Weise mit der konkreten Art ihrer Tätigkeit zusammenhängt. Es ist dafür aus seiner Sicht gleichgültig, ob sie ungelernte Handarbeit verrichten oder hoch qualifizierte Arbeit. Entscheidend ist vielmehr, ob sie in irgendeiner Weise Teil des Gesamtarbeitsprozesses im kapitalistischen Unternehmen sind. Auch Funktionen der Koordination und der Aufsicht gehören dazu, Marx nennt sogar die «Manager».

Umgekehrt sind Arbeiten im Sinne dieses Verständnisses nicht «produktiv» (so nützlich sie auch sein mögen), die nicht der kapitalistischen Mehrwertproduktion dienen. Ein Gärtner kann als Beschäftigter eines Gartenbauunternehmens «produktiver Arbeiter» sein, wenn er aber auf eigene Rechnung für einen privaten Kunden arbeitet, dann ist seine Arbeit «unproduktiv». Eine Reinigungskraft kann als Beschäftigte eines Reinigungsunternehmens Mehrwertproduzentin und also «produktiv» sein, wenn sie aber dieselbe Arbeit als Dienstleistung für private Kunden macht, dann ist sie «unproduktive» Arbeiterin.

Was sagt Marx?

«Jeder produktive Arbeiter ist Lohnarbeiter, aber deswegen ist nicht jeder Lohnarbeiter produktiver Arbeiter. So oft die Arbeit gekauft wird, um als Gebrauchswert verzehrt zu werden, als Dienst, nicht um als lebendiger Faktor an die Stelle des Werts des variablen Kapitals zu treten und dem kapitalistischen Produktionsprozess einverleibt zu werden, ist die Arbeit keine produktive Arbeit und der Lohnarbeiter kein produktiver Arbeiter. Seine Arbeit wird dann ihres Gebrauchswerts wegen, nicht als Tauschwert setzend, sie wird unproduktiv, nicht produktiv konsumiert. Der Kapitalist steht ihr daher nicht als Kapitalist, als Repräsentant des Kapitals gegenüber. Er tauscht sein Geld gegen sie als Revenue, nicht als Kapital aus.» (S.?148.)¹

Ähnliches gilt für andere Dienstleistungen, einschließlich derer, die von Beschäftigten im öffentlichen Dienst erbracht werden: «Sowenig die Waren, die der Kapitalist kauft zu seinem Privatkonsum, produktiv konsumiert werden, Faktoren des Kapitals werden, sowenig die Dienste, die er freiwillig oder gezwungen (beim Staat etc.) ihres Gebrauchswerts wegen, zu seiner Konsumtion kauft. Sie werden kein Faktor des Kapitals. Sie sind daher keine produktiven Arbeiten und ihre Träger keine produktiven Arbeiter.» (Ebd.)

Es ergibt sich, dass für Marx die Unterscheidung von «produktiver» und «unproduktiver Arbeit» in der kapitalistischen Produktionsweise nichts mit der Klassenzugehörigkeit der Menschen zu tun hat. Es ging ihm dabei vielmehr um die Bedeutung der Mehrwertproduktion für die Verwertung von Kapital: «Der Unterschied von produktiver und unproduktiver Arbeit wichtig mit Bezug auf die Akkumulation, da nur der Austausch gegen produktive Arbeit eine der Bedingungen der Rückverwandlung von Mehrwert in Kapital ist.» (S.?157.)

Das lohnabhängige ­Kleinbürgertum

Müssen wir ein «lohnabhängiges Kleinbürgertum»² als Bündnispartner hinzunehmen, wenn wir gesellschaftliche Mehrheiten für den Sturz der Macht des Kapitals finden wollen? Hier geht es nicht um die Diskussion dieser strategischen Frage insgesamt, sondern nur um die Kriterien für die Zugehörigkeit zu diesem «lohnabhängigen Kleinbürgertum». Sie sind nicht wirklich stimmig.

Kommen wir zunächst auf die Rolle der verschiedenen «Funktionäre» des «Gesamtarbeitsprozesses» im kapitalistischen Unternehmen zurück. Marx schließt da sogar die «Manager» als Produzenten des Mehrwerts mit ein. Aber natürlich gehören sie nicht zur «Arbeiterklasse» in irgendeinem sinnvollen Gebrauch dieses Worts. Sie sind mehr oder weniger drastisch «adoptierte» Mitglieder des Bürgertums. Ab einer bestimmten Einkommenshöhe besteht keineswegs mehr der «Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen» (das ist das klassische Kriterium für die Zugehörigkeit zum «Proletariat»), weil die betreffenden Leute durchaus von ihrem Geldkapital leben könnten, und das ziemlich gut. Gerade die heutigen Ingenieure und Techniker aber sind durchaus Angehörige der lohnabhängig arbeitenden Klasse.

Andererseits ist es offenkundiger Unsinn, Menschen nicht zu dieser arbeitenden Klasse zu rechnen, bloß weil sie (wenn sie als prekäre Scheinselbständige für Unternehmen arbeiten, sogar nur der reinen Form nach) «unproduktiv» Dienstleistungen erbringen, ohne an der Mehrwertproduktion eines kapitalistischen Unternehmens unmittelbar teilzunehmen. Wenn man auch Lehrerinnen und Lehrer zum «lohnabhängigen Kleinbürgertum» rechnet², ergibt sich folgendes paradoxe Ergebnis: Die Lehrkräfte an einer staatlichen Schule und die an einer Privatschule müssten aus dieser Sicht zwei verschiedenen Klassen zugerechnet werden, erstere dem lohnabhängigen Kleinbürgertum, letztere dem mehrwertproduzierenden Proletariat.

Alles in allem halte ich es für sinnvoller alle, die ihr Arbeitsvermögen verkaufen müssen, zur lohnabhängig arbeitenden Klasse zu rechnen – und dann gehört auch in Deutschland die große Mehrheit der Bevölkerung dazu.

1.?Zitate aus Karl Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. (Sechstes Kapitel des ersten Bandes des «Kapitals». Entwurf 1863/1864.) Berlin 1988.

2.?Siehe Thomas Goes: «Was ist das Volk?», SoZ 6/2018.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.