von Leo Gabriel*
Das bisherige politische System Mexikos ist am Ende, López Obrador konnte sich mit seiner Sammlungsbewegung MORENA als neue Kraft darstellen.
Als am 1.Juli um Punkt 20 Uhr der drittplatzierte Präsidentschaftskandidat, José Antonio Meade, von der fast ein Jahrhundert alten PRI (Partido Revolucionario Institucional) kurz nach der Schließung der Wahllokale vor die Kameras trat und Andrés Manuel López Obrador (kurz AMLO genannt) von der erst vor drei Jahren gegründaeten linksliberalen MORENA (Movimiento de Renovación Nacional) zu dessen fulminanten Sieg gratulierte – Obrador hat 53 Prozent der Stimmen erhalten –, konnte es zunächst niemand glauben. «Ich musste mich zweimal in die Backe kneifen, um sicher zu sein, dass ich nicht träume», gestand AMLO etwas später bei einem Bürgerforum in Ciudad Juárez an der US-amerikanischen Grenze.
Dabei war der Sieg an sich gar nicht so überraschend. Bereits in den Monaten vor diesen «Jahrhundertwahlen», wie die mexikanische Presse sie nannte (gleichzeitig mit dem Präsidenten wurden auch der Kongress, der Senat, die Bürgermeister und eine bestimmte Anzahl von Gouverneuren gewählt), lag López Obrador in den Meinungsumfragen mit 15–20 Prozent Vorsprung vor dem zweitplatzierten Ricardo Anaya von der rechtskonservativen PAN (Partido de Acción Nacional).
Was die Wählerinnen und Wähler jedoch bis zum Ende des Wahltags verunsicherte, war die Tatsache, dass in den letzten Monaten insgesamt 128 Kandidaten verschiedener Parteien ermordet worden waren.
Bilder aus der noch nicht so weit zurückliegenden Vergangenheit tauchten auf: 1988, als Cuauhtémoc Cárdenas von der damals noch als fortschrittlich geltenden PRD (Partido de la Revolución Democrática) die Wahlen gewonnen hätte, wenn das Innenministerium nicht nach Verlautbarung der ersten Ergebnisse die Computer einfach für ein paar Tage abgeschaltet hätte, um den Kandidaten der PRI durchzubringen; oder 1994, als der als linksliberal geltende Kandidat der PRI, Luis Donaldo Colosio, bei einer Wahlversammlung im Norden des Landes, vermutlich auf Betreiben seiner parteiinternen Widersacher, von einer Todesschwadron ermordet wurde.
Und last but not least hatte Andrés Manuel López Obrador als Kandidat für die PRD die Wahlen bereits zweimal, 2006 und 2012, für sich entschieden, wurde aber durch ähnliche Tricks, wie sie auch im Vorfeld dieser Wahlen zu beobachten waren, aus dem Rennen geworfen.
Auch diesmal Wahlbetrug
Das eigentliche Wunder bei den Wahlen am 1.Juli bestand darin, dass 56 Millionen Mexikaner sich «zum allerletzten Mal» – wie viele von ihnen sagten – aufrafften, in der Hoffnung, dass es diesmal anders kommen würde. Ein eher müdes ¡ya basta! (Es reicht!) war der Tenor, der in so ziemlich allen Bundesstaaten der mexikanischen Republik gleichermaßen vorherrschte.
Ganz besonders freundlich wurden deshalb auch die internationalen Wahlbeobachter willkommen geheißen. In einem Wohnblock in Iztapalapa, einem der größten, über 3 Millionen Einwohner zählenden Arbeiterviertel der Hauptstadt, wurden die Besucher z.B. darüber informiert, wo gerade Geld verteilt wurde – je nach sozialem Standing zwischen 500 und 1500 mexikanische Pesos (etwa 20–50 Euro).
Aber es gab auch Warenkörbe mit Lebensmitteln und Kinderspielzeug, die in irgendwelchen Hinterhöfen verteilt wurden, zusammen mit einer Kreditkarte mit etwa 100–200 US-Dollar, die allerdings nur dann ausbezahlt würden, wenn der Kandidat oder die Kandidatin der spendablen Partei eine Mehrheit erreichte.
Am schlimmsten war es im traditionell sehr konservativen, der katholischen Kirche nahe stehenden Bundesstaat Puebla. Dort tauchte im Wallfahrtsort Cholula plötzlich eine bewaffnete Gang auf und begann, auf die Wartenden zu schießen, es gab einige Tote und eine große Anzahl von Verletzten. Die Logik dahinter: Je weniger Menschen zur Wahl gingen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass AMLO und seine linksliberale MORENA gewählt würden.
Zusammenbruch des Systems
Die Kommentare zur mexikanischen Wahl hoben vor allem die Tatsache hervor, dass das der erdrutschartige Sieg von MORENA (307 von 500 Sitzen im Kongress und 68 von 128 im Senat) eher auf den Zusammenbruch des seit Jahrzehnten in Mexiko herrschenden politischen und ökonomischen Systems zurückzuführen sei, als auf den Organisationsgrad der MORENA-Partei.
Je näher der Wahltag rückte, desto schärfer wurden die wechselseitigen Anschuldigungen der mit Korruptionsvorwürfen belasteten Parteien des politischen Mainstreams. Selbst innerhalb von PRI, PAN und PRD war es zu argen Zwistigkeiten bezüglich der Kandidatenwahl gekommen.
López Obrador selbst wurde von der nationalen Oligarchie zwar immer wieder beschuldigt, ein zweiter Hugo Chávez oder Fidel Castro zu sein, half sich jedoch damit, einzelne Persönlichkeiten vor allem aus dem Lager der PRI in MORENA zu integrieren, um seinen politischen Gegnern das Wasser abzugraben.
Sammelbecken MORENA
Doch wofür steht eigentlich AMLO, dessen MORENA erst vor drei Jahren als eine Abspaltung der in den Korruptionssumpf verwickelten PRD gegründet wurde? MORENA selbst ist nämlich gar keine Partei im klassischen Sinn, sondern eher ein um ihren Gründer und Anführer zentriertes Sammelbecken, zu dem sich unterschiedliche Sektoren der mexikanischen Zivilgesellschaft zusammengetan haben.
López Obradors Karriere begann im südöstlichen Bundesstaat Tabasco in den 80er Jahren im Rahmen der Quasi-Einheitspartei PRI, von der er sich 1989 nach dem großen Wahlbetrug an Cuauhtémoc Cárdenas lossagte und mit diesem gemeinsam die PRD gründete.
Erst im Jahr 2000 schlug seine Stunde, als der eher farblos wirkende Parteimanager zum Bürgermeister von Mexiko-Stadt gewählt wurde: Er sanierte das verkommene Stadtzentrum, kümmerte sich um den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, richtete die UACM, eine eigene Universität für Arbeiterinnen und Arbeiter, ein und ermöglichte es den Alten, jährlich einen Sonderurlaub zu nehmen.
Im Jahr 2005 trat er nach politischen Turbulenzen als Bürgermeister zurück und kandidierte ein Jahr später bei den Präsidentschaftswahlen, die er höchstwahrscheinlich gewonnen hätte, wenn es zu der von ihm geforderten neuerlichen Stimmenauszählung gekommen wäre. 2012 wiederholte sich dieses Spektakel auf ähnliche Art und Weise.
Es ist der Energie und Hartnäckigkeit des heute 65jährigen zuzuschreiben, dass es in Mexiko kaum eine Kleinstadt gibt, die er nicht mehrmals besucht hat. Und als sich die PRD in einen Korruptionsskandal nach dem anderen verwickelte, gründete er seine eigene Wahlbewegung, in die er sukzessive auch die meisten anderen linken Gruppierungen hereinholte – mit Ausnahme der Zapatisten, die dem ehemaligen Parteichef der PRD bis heute nicht verziehen haben, dass er sie Ende der 90er Jahre bei ihren Autonomiebestrebungen im Stich gelassen hat.
Politisch gesehen gehört die Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft zu den obersten Prioritäten seiner Partei. Nach dem Wahlsieg wurden eine Reihe von Foros Ciudadanos (Bürgerforen) durchgeführt, bei denen die Bevölkerung aufgefordert wird, sich am «Vierten historischen Transformationsprozess Mexikos» nach der Unabhängigkeit, der mexikanischen Revolution und der Studentenrevolte 1968 zu beteiligen.
Auf dem Gebiet der Wirtschaft hat López Obrador eine Erhöhung des Mindestlohns und der Subventionen für die landwirtschaftlichen Klein- und Mittelbetriebe sowie einen weitgehenden Stopp der Privatisierung angekündigt. Ob es ihm allerdings gelingen wird, die Privatisierung des staatlichen Erdölkonzerns PEMEX und das Freihandelsabkommen NAFTA mit den USA und Kanada rückgängig zu machen, bleibt abzuwarten. Auf alle Fälle will er sich diesbezüglich mit Donald Trump verständigen, der überraschend positiv auf seinen Wahlsieg reagiert hat.
Überraschend war auch AMLOs bereits im Wahlkampf kolportiertes Ansinnen, mit den Drogenbaronen über ein Amnestiegesetz zu verhandeln, das teilweise auf heftige Kritik bei der Bevölkerung gestoßen ist. Seine Linie perdón sí, olvido no (Vergebung ja, Vergessen nein) ist insbesondere bei den Opfern der horrenden Verbrechen, an denen seine Vorgänger mit ihrem sog. «Drogenkrieg» mitschuldig sind, schlecht angekommen.
Wie dem immer auch sei: Nach Jahrzehnten des Niedergangs und der Auflösung der sozialen Strukturen ist in Mexiko bei den meisten Menschen die Hoffnung eingekehrt, dass sich das Blatt der Geschichte endlich zum Besseren wenden könnte.
* Leo Gabriel ist Journalist und Anthropologe, Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums und war als internationaler Wahlbeobachter eines zivilgesellschaftlichen Netzwerks in Mexiko.
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