von Klaus Engert
Allerorten in Europa überbieten sich die politischen Parteien jeglicher Couleur mit Vorschlägen, wie den aktuellen und den zu erwartenden Flüchtlingsströmen zu begegnen sei. Abschottung und Abschiebung propagieren (und praktizieren) die einen, während andere, u.a. die Bundeskanzlerin, den Königsweg in der «Bekämpfung der Fluchtursachen» ausgemacht haben und dafür tief in den Geldbeutel greifen wollen.
Die Lage scheint paradox: Ausgerechnet die Spitzen der deutschen Wirtschaft scheinen entgegen dem Trend das Panier des Antirassismus hochzuhalten, allerdings mit einer sehr bezeichnenden Begründung: «Erneut hat Siemens-Chef Joe Kaeser davor gewarnt, dass Rassismus und Nationalismus in Deutschland gesellschaftsfähig werden. In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk sagte Kaeser, zunehmender Rassismus hätte verheerende Folgen für die deutsche Wirtschaft – und auch für das Unternehmen Siemens im Speziellen.» (Zeit online, 12.8.2018.) Wir werden darauf noch zurückkommen.
Flucht in Afrika allgemein…
Gerne wird unterstellt, bei denen, die verzweifelt, unter Einsatz ihres Lebens, versuchen, politischer Verfolgung, Krieg, Elend und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat zu entkommen, handele es sich um «Wirtschaftsflüchtlinge», schuld seien ihre Regierungen, denen die Überweisungen der Exilanten aus Europa willkommen seien, um die maroden Staatsfinanzen aufzubessern; und außerdem sei das Boot Europa bereits voll. Im Zentrum der Debatte steht dabei in Europa derzeit Afrika (in Nordamerika geht es in ähnlicher Weise um Mittel- und Südamerika).
Wir hatten uns bereits im letzten Jahr in dieser Zeitung (SoZ 10/2017) ausführlich mit der Flüchtlingssituation in Afrika beschäftigt und festgestellt, dass der Kontinent selbst, und mitnichten Europa, die Hauptlast der Folgen von Flucht und Vertreibung zu tragen hat, sowohl, was die Aufnahme von Binnenflüchtlingen, als auch die von Flüchtlingen aus anderen Ländern betrifft. Nur ein Bruchteil macht sich auf den Weg gen Europa, die überwältigende Mehrheit bleibt in den riesigen Flüchtlingslagern, z.B. in Kenya und Uganda, oder in Lagern im eigenen Land, in die mit Hilfe einer Finanzierung durch die UNO das Problem ausgelagert wird.
Was in Europa ankommt, ist ein verschwindender Bruchteil: Im Jahr 2017 wurden bspw. die meisten Asylanträge aus afrikanischen Staaten von eritreischen (10.226), nigerianischen (7811) und somalischen (6836) Staatsangehörigen gestellt, wobei die Anerkennungsquote bei den Nigerianern gerade einmal bei 11 Prozent lag. Die überwältigende Mehrheit der über eine halbe Million geflüchteten Eritreer lebt im subsaharischen Afrika (hauptsächlich im Sudan und in Äthiopien).
In Nigeria leben über 2 Millionen (s.u.) Binnenflüchtlinge in Lagern, und was Somalia betrifft, so leben mehr als 1,1 Mio Flüchtlinge im eigenen Land. Laut UNHCR leben weitere ca. 1,2 Millionen Somalier als Flüchtlinge in einem Drittland, davon zwei Drittel in drei Ländern: Kenya, 313.255 (rund 36 Prozent), Jemen, 256.169 (rund 30 Prozent) und Äthiopien, 249.903 (rund 29 Prozent).
…und konkret in Nigeria
Die international tätige Firma Control Risks mit Sitz in London listet für ihre Kunden (die geheim gehalten werden) als Service wöchentlich länderspezifisch sicherheitsrelevante Ereignisse auf. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab es ihren Daten zufolge in Nigeria landesweit 1762 Tote und 266 Entführungen im Rahmen von Kampfhandlungen. Davon entfielen 462 Tote auf Überfälle, Selbstmordanschläge und Militäraktionen in Zusammenhang mit der (laut Regierungsangaben bereits vor zwei Jahren angeblich «strukturell besiegten», dem IS verbundenen) islamistisch verbrämten Räuberbande Boko Haram.
Weit mehr Tote jedoch, 636, waren durch Überfälle der halbnomadischen Fulani auf Dörfer und Farmen im Süden versursacht. Weitere 81 Tote gingen auf das Konto von geheimen Kultgesellschaften, 480 waren auf Raubüberfälle zurückzuführen, 72 auf interkommunale Auseinandersetzungen (hauptsächlich Streitigkeiten um Land), in 19 Fällen handelte es sich um politische Morde. 56 Fälle wurden als «ungeklärt» klassifiziert. Das sind, notabene, nur die bekannt gewordenen Fälle, die Dunkelziffer ist erheblich und insbesondere das nigerianische Militär macht häufig nur nebulöse Angaben («mehrere Tote»).
Damit gehört Nigeria, das bevölkerungsreichste und zweitreichste Land Afrikas, zu den Ländern, die in den letzten zwei Jahren neben dem Sudan, Südsudan, Somalia, Libyen, Ägypten, Äthiopien, der Zentralafrikanischen Republik, Mali und Kongo die meisten Toten durch bewaffnete Auseinandersetzungen zu beklagen hatten. Und Nigeria hat nach dem Sudan (3,2 Millionen) mit 2,1 Millionen Menschen die zweithöchste Rate an Binnenflüchtlingen.
Denn hinter den oben genannten nackten Zahlen verbirgt sich die Tatsache, dass die permanenten Überfälle dazu führen, dass ganze Dörfer ausgelöscht werden – auf jeden Überfall kommen zerstörte Häuser und Farmen, wodurch die Bewohner ihre Subsistenzgrundlagen verlieren, nicht zu reden von den Hunderten teils schwerverletzten Menschen, die ihr Leben anschließend in Flüchtlingscamps fristen oder von ihren Familien in anderen Landesteilen aufgenommen werden (deshalb ist auch die Dunkelziffer so hoch). Diese Menschen können und wollen nicht in ihre Dörfer zurück – teils, weil dort alles zerstört ist, teils, weil sie weitere Überfälle befürchten. Eine soziale Absicherung gibt es außerhalb der Familie für diese Menschen nicht, die Versorgung in den Lagern ist katastrophal.
Der permanente Krieg
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sich Nigeria nach der anerkannten Definition des Friedensforschers Istvan Kende ebenso wie der größte Teil Afrikas in einem permanenten Krieg befindet. Die gängige Lesart ist, es handele sich dabei um einen «Sharia-Konflikt». Betrachtet man die obigen Zahlen, so ist das Unfug. Die Wahrheit ist, dass die Kriegsursachen sehr wenig mit Religion und sehr viel mit Entwicklungen zu tun haben, die mitnichten «hausgemacht» sind und in der nahen Zukunft zu einem weiteren Anschwellen der Flüchtlingszahlen führen werden.
Nigeria ist dafür nicht das einzige, aber ein sehr gutes Beispiel:
– Der Krieg: Die anhaltende militärische Auseinandersetzung mit der Gruppe Boko Haram im Norden wird in erster Linie gespeist aus der Armut und Perspektivlosigkeit in diesem Teil des Landes. Die anhaltenden Überfälle und Selbstmordanschläge haben zur Zerstörung ganzer Dörfer geführt – darunter leidet in erster Linie die dortige muslimische Bevölkerung, was ebenfalls belegt, dass es sich nicht um einen «Religionskrieg» handelt (siehe dazu meinen Artikel zu Boko Haram in SoZ 3/2015).
– Der Klimawandel: Die Folgen des Klimawandels mit der zunehmenden Versteppung des Nordens führen dazu, dass die halbnomadischen Fulani, die von jeher gewohnt waren, je nach Jahreszeit ihr Vieh vom Norden in den Süden zu treiben, einerseits in der Trockenzeit immer weiter nach Süden müssen, andererseits zusehen müssen, wie große Teile ihrer traditionellen Routen inzwischen agrarisch bewirtschaftet werden. Das führt zu vermehrten gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Farmern, mit denen es früher eine Art friedlicher Koexistenz gab.
– Die Landfrage: Die Farmer verlieren aus den beiden genannten Gründen mehr und mehr ihre Subsistenzgrundlage, aber es kommt noch hinzu, dass die Regierung zunehmend auf exportorientierte Landwirtschaft setzt und sowohl einheimische, wie auch ausländische Agrarindustrielle die Kleinbauern verdrängen.
– Reichtumsverteilung und -transfer: Nigeria ist eigentlich ein reiches Land. Das Problem ist nicht das mangelnde Volkseinkommen, sondern dessen Verteilung. Während ein großer Teil der Bevölkerung von einem Dollar pro Tag leben muss, hat das Land eines der teuersten Parlamente der Welt und der größte Teil der Staatseinnahmen landet in den Taschen einer kleinen, superreichen Oberschicht, die ihr Vermögen sicherheitshalber zum Teil ins Ausland schafft, sowie bei internationalen Konzernen (vor allem der Ölindustrie), die mit eben jener Oberschicht gute Geschäfte macht.
An allen diesen Problemen, die mitnichten nur für Nigeria gelten, haben weder Handelsabkommen noch Entwicklungshilfe bisher etwas zu ändern vermocht – im Gegenteil.
Wirtschaftsflüchtlinge?
Ja, es handelt sich beim größten Teil derer, die versuchen, den geschilderten Zuständen zu entfliehen, tatsächlich um Wirtschaftsflüchtlinge – allerdings nicht in dem Sinne, in dem dieser Begriff bei uns verwendet wird. Es handelt sich um Menschen, die vor den Folgen des globalisierten Wirtschaftssystems fliehen (müssen), das die Industriestaaten immer reicher macht – auf Kosten der Teile der Welt, die von ihnen ausgeplündert werden.
Es ist eine banale Tatsache, dass der Reichtum der einen unter den herrschenden Bedingungen immer die Not der anderen ist. Krieg, Hunger und Vertreibung sind die Folgen, und somit ist jeder Flüchtling, sei er nun vor politischer Verfolgung, Krieg oder schlicht Hunger geflohen, einer, der versucht, vor den Konsequenzen eben dieses Weltwirtschaftssystems davonzulaufen – und jeder von uns, der in einer ähnlichen Lage wäre, täte das Gleiche, so, wie unsere Vorfahren dies in den Auswanderungswellen aus Deutschland im 19. und beginnenden 20.Jahrhundert taten.
Um auf den oben zitierten Joe Kaeser zurückzukommen: Er hat natürlich recht. Nationalismus und Rassismus verderben das Geschäft der globalisierten, international tätigen Konzerne wie Siemens. Er hat nur vergessen, dass es exakt ihre Art der Geschäftemacherei ist, die die wesentliche Flucht- und Vertreibungsursache darstellt und damit eben diesen Nationalismus und Rassismus befeuert.
Wenn man von «Bekämpfung der Fluchtursachen» reden will, dann führt kein Weg daran vorbei, eben das Geschäftsmodell aufs Korn zu nehmen, das Leute wie Kaeser repräsentieren: das der grenzenlosen Ausbeutung, der Zerstörung der Umwelt und damit der Lebens- und Subsistenzgrundlagen für die Bevölkerung Afrikas, des Reichtumstransfers in die Länder des Nordens, des ungleichen Tauschs und der Alimentierung und Hofierung der Komplizen im globalen Süden. Darunter geht es nicht, das sei Linkspopulisten jeglicher Couleur hier ins Stammbuch geschrieben.
Wenn man das nicht will, dann bleibt nur die Abschottung und ein paar Almosen, wie sie auch heute schon über die diversen Organisationen wie das UNHCR verteilt werden, um wenigstens den Anschein von Menschlichkeit aufrechtzuerhalten.
Kanzlerin Merkel hat bei dem Staatsempfang für den übel beleumundeten Präsidenten von Niger, Mahamadou Issoufou, der sich rühmt, mit «geeigneten Maßnahmen» die Durchreise von Flüchtlingen nach Norden bereits um 90 Prozent reduziert zu haben (natürlich gegen Bares), am 15.August klargestellt, die Lösung des Problems bestehe darin, dass korrupte Regierungen, die im Verein mit dem internationalen Kapital eben jene Probleme verursacht haben und verursachen, mittels Geldtransfers die Drecksarbeit bei der Abschottung Europas übernehmen. Mit Bekämpfung der Fluchtursachen, wie sie das nennt, hat das nichts zu tun. Das wird sie als gelernte Marxistin auch wissen.
Diese Strategie wird nicht mehr lange gut gehen. Der globale Krieg hat schon begonnen.
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