von Harald Etzbach
Weitgehend unbeachtet von der westlichen und auch linken Öffentlichkeit demonstrierten in den letzten Wochen Zehntausende Menschen in der syrischen Provinz Idlib gegen die Pläne des Assad-Regimes und Russlands, dieses letzte nicht vom Regime kontrollierte Gebiet zurückzuerobern. Allein in Idlib-Stadt waren trotz unmittelbarer Bedrohung durch Angriffe der syrischen und russischen Luftwaffe etwa 25000 Menschen auf der Straße. Auf den Transparenten standen Sätze wie «Wir sind keine Terroristen!», «Kein Frieden ohne Gerechtigkeit» und «Das Volk will den Sturz des Regimes!» Weitere große Demonstrationen mit ähnlichen Parolen fanden in Maarat al-Numan, Atareb, Kafranbel und Saraqeb statt.
Ein Angriff auf Idlib würde ohne Zweifel eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes bedeuten. Knapp 3 Millionen Menschen in der Provinz (davon 1,4 Millionen Vertriebene aus anderen Landesteilen) wären diesen Angriffen nahezu schutzlos ausgeliefert. Flucht ist unmöglich, da die Türkei die Grenzen geschlossen und mit massiven Grenzanlagen befestigt hat. Gerechtfertigt werden die geplanten Angriffe mit der Präsenz islamistischer Gruppen in Idlib. Damit folgt das Regime einem «Argumentations»muster, das es in den vergangenen Jahren auch bei der Vertreibung großer Bevölkerungsteile aus Aleppo, Ost-Ghouta und anderen Orten Syriens benutzt hat. Zwar gibt es in Idlib eine Präsenz von etwa 10000 Kämpfern der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS, al-Qaeda nahestehend), Opfer wären jedoch vor allem Zivilisten. Denn in die Provinz Idlib hatte das Regime in den letzten Jahren alle die Menschen vertrieben, die sich der brutalen Diktatur nicht beugen wollten. Hier leben Menschen, die oftmals schon einmal geflohen sind und die bereits alles verloren haben. Und schon in den letzten Wochen wurden bei russischen Angriffen vor allem zivile Ziele getroffen, darunter zwei Krankenhäuser.
Tatsächlich geht es dem Regime in Idlib genau wie anderswo um die Ausschaltung jedweder Opposition. So erklärte der Geheimdienstchef der syrischen Luftwaffe, General Jamil Hassan, auf einem Treffen mit anderen Geheimdienstoffizieren Anfang August: «Ein Syrien mit 10 Millionen regierungstreuen Menschen ist besser als ein Syrien mit 30 Millionen Terroristen.» Eine ähnlich brutale Sprache benutzte Ende August auch der russische Außenminister Lawrow, der von der Notwendigkeit sprach, in Idlib ein «eiterndes Geschwür» zu entfernen.
Schon aus diesem Grund ist es fraglich, ob der Deal, der Mitte September zwischen Russland und der Türkei geschlossen wurde, mehr als ein Provisorium sein wird. Die Vereinbarung betrifft vor allem die Einrichtung einer 15–20 Kilometer breiten, entmilitarisierten Schutzzone, die gemeinsam von türkischen und russischen Militärpolizisten kontrolliert werden soll, und kommt damit türkischen Ängsten vor einer Flüchtlingswelle entgegen. Russland und das Assad-Regime haben allerdings auch in der Vergangenheit keine besondere Rücksicht auf die Vereinbarung von Deeskalationszonen genommen, und auch der syrische Außenminister Walid al-Muallim kündigte vor kurzem an, das syrische Militär werde in Idlib «den ganzen Weg gehen».
Möglicherweise wird es in den nächsten Wochen deshalb statt einer Großoffensive häufige kleinere Gefechte geben, in denen die Armee des Regimes mit russischer Unterstützung versuchen wird, Territorium zurückzuerobern. Auf diese Weise könnte die in anderen Teilen Syriens vergleichsweise gut funktionierende russisch-türkische Kooperation fortgesetzt und das militärische Vorgehen in Idlib besser aus der öffentlichen Wahrnehmung herausgehalten werden.
Auf einen Akteur braucht die russisch-syrische Kriegsmaschinerie dabei im übrigen keine Rücksicht zu nehmen: auf die kümmerlichen Reste der internationalen Friedensbewegung. Diese hat zu dem angekündigten Massaker an der Zivilbevölkerung in Idlib – wie so oft, wenn es um die Verbrechen des russischen und des Regimemilitärs in Syrien ging – weitgehend geschwiegen.
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