von Hermann Dierkes
Jair Bolsonaro hat die erste Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen mit 46,03 Prozent (rd. 49 Millionen) der gültigen Stimmen klar gewonnen. Dieses erschreckende Ergebnis für einen rechtsautoritären bis faschistoiden Kandidaten und erklärten Fan der früheren Militärdiktatur (”Damals wurde zuviel gefoltert, statt zu erschiessen”) lag weit über allen Prognosen. Fernando Haddad, ehemaliger Bürgermeister von Sao Paulo und Kandidat des Bündnisses von PT, PCdoB und verschiedenen sozialen Bewegungen, der buchstäblich in letzter Minute für den inhaftierten Lula da Silva ins Rennen geschickt wurde, erhielt 29,28 Prozent (31,3 Mio. Stimmen). Es muss von einer tiefgreifenden rechten Welle in der brasilianischen Gesellschaft gesprochen werden.
Die bislang bedeutungslose Sozialliberale Partei (PSL) des früheren Berufsoffiziers und langjährigen Bundesabgeordneten Bolsonaro reitet erfolgreich auf einer hasserfüllten anti-emanzipatorischen, anti-Linken, anti-Establishment- und ”anti-Korruptions”-Welle, propagiert eine brutale Wende in der öffentlichen Sicherheit und bedient sich einer unglaublich dreisten Fake-News-Flut, v.a. über Youtube und Facebook (Trump lässt grüßen!). Die PSL wurde mit 52 Mandaten als zweitstärkste Fraktion in die Legislativkammer (Zentralparlament von Brasilia) katapultiert. Bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen zu den Landesparlamenten wuchs sie im Vergleich zu 2014 von 16 auf 76 Mandate an. Im Senat, in dem die PSL bisher überhaupt nicht vertreten war, holte sie 4 Sitze.
Bei den Gouverneurswahlen (auf Länderebene) kandidierte die PSL oder unterstützte andere rechtsgerichtete Kandidaten in 13 Fällen. Sie erzielte hier ebenfalls einige überraschende Ergebnisse, am markantesten in Rio de Janeiro, wo sie mit dem völlig unbekannten ehemaligen Richter Wilson Witzel alle anderen Kandidaten schlug und in der ersten Runde mit 41,28 Prozent (3,15 Mio. Stimmen) auf dem ersten Platz landete. Witzel muss in der zweiten Wahlrunde (am 28.10.) gegen den Kandidaten der rechtsbürgerlichen DEM (Democratas), Eduardo Paes, antreten, der knapp 1,5 Mio. Simmen (19,56% Prozent) erhalten hat.
Die Verluste der PT
In vielen Mainstream-Medien weltweit wird die Arbeiterpartei (PT) als Hauptverliererin dargestellt. Doch das trifft so nicht zu, insbesondere weil die Partei an dem früheren Präsidenten Lula da Silva bis zum wahlrechtlich letztmöglichen Augenblick festhielt. Erst nach ihrem Scheitern vor dem höchsten Wahlgericht, das Lula die Kandidatur verbot und ihn sogar des Stimmrechts beraubte, wurde Fernando Haddad nur eine gute Woche vor den Wahlen ersatzweise vom Vize- zum Präsidentschaftskandidaten nominiert. Lula war bis dahin in allen Umfragen klarer Favorit für die erste und zweite Runde.
Die Umschichtung des enormen Stimmenpotentials von Lula auf Haddad gelang nur teilweise, dennoch ist sie – ohne dass Lula die so wichtigen Sendezeiten zugebilligt wurden – historisch gesehen ziemlich einmalig. Die PT errang 59 Abgeordnetenmandate (2014 waren es noch 69) und wurde damit wiederholt stärkste Fraktion in der 513köpfigen Legislativkammer, gefolgt von der PSL mit 52 Mandaten. Haddad siegte in 9 Bundesländern, Bolsonaro allerdings in 17 und Ciro Gomes von der linksliberalen PSB in einem Bundesstaat
Die Verluste für die PT und ihre Bündnispartner werden allerdings deutlicher, wenn man nur die Landeshauptstädte betrachtet. Hier gewann Haddad nur in 3, Bolsonaro in 23. In die Landesparlamente zieht die PT mit nur noch 84 Abgeordneten (gegenüber 110) ein und bleibt damit hinter der diskreditierten bürgerlichen MDB mit 93. Bei den Gouverneurswahlen eroberte die PT drei Länder, alle im Nordosten Brasiliens: Bahía, Ceará und Piauí. Sie hat allerdings gute Chancen, in der zweiten Runde auch Rio Grande do Norte zu holen.
Insgesamt fiel die PT im Vergleich zu 2014 auf allen Ebenen zurück. Die durch ein äusserst zweifelhaftes Impeachment 2015 gestürzte Präsidentin Dilma Rousseff hatte im ersten Durchgang noch 41,59 Prozent erzielt, Haddad jetzt 29,28 Prozent. Die PT verlor 10 Bundesabgeordnete und 26 Mandate auf Landesebene. Symbolkraft hat außerdem die Niederlage von bekannten Persönlichkeiten bei der Senatswahl wie Lindbergh Farias (stv. Parteivorsitzender) und Eduardo Suplicy. Im Senat – der 81köpfigen zweiten brasilianischen Kammer – ist die PT mit jetzt nur noch 6 anstatt 9 Sitzen vertreten.
Fast die Hälfte der Stimmen für Haddad (46 Prozent) kam aus dem Nordosten, nur 38 Prozent aus den hochindustrialisierten Regionen des Südens und Südostens. In der ABC-Region um Sao Paulo – Santo André, Sao Bernardo do Campo, Sao Caetano do Sul und Diadema, der industriellen Wiege der Partei und früheren Bastion des PT-nahen Gewerkschaftsbunds CUT – lag Bolsonaro vorn. In Sao Caetano wurde Haddad sogar mit dem vierten Platz hinter Bolsonaro, Ciro Gomes (PSB) und einem Amoedo gedemütigt.
Die Hauptverlierer
Hauptverlierer sind die beiden wichtigsten Koalitionsparteien der Regierung Temer, MDB (bis Mai 2018 PMDB) und PSDB. Die Mehrzahl ihrer Minister wurde an den Wahlurnen geschlagen, darunter der ”harte Kern” der Regierung Temer mit Romero Jucá (MDB), Antonio Imbassahy (PSDB) und Roberto Freire (PPS). Die MDB verlor im Bundesparlament (513 Sitze) sogar die meisten Abgeordneten: sie fiel von 66 auf 34 Mandate. Während sie 2014 noch die zweitstärkste Fraktion stellte, landete sie nun auf dem 4. Platz. Sie konnte nur noch einen Gouverneur durchsetzen und muss in 3 Bundesländern in die Stichwahl.
Die zweitgrößte bürgerliche Partei, die PSDB von F.H.Cardoso, José Serra und Aécio Neves, sackte von 54 Abgeordneten (drittstärkste Fraktion) auf 29 ab und steht damit nur noch an 9. Stelle. Sie erhielt in der ersten Runde keinen Gouverneur und muss in 4 Bundesländern in die Stichwahl. Das mit nur 4,76 Prozent niederschmetternde Ergebnis für ihren Präsidentschaftskandidaten Alckmin löste heftige Reaktionen im Parteivorstand aus. Alckmin bezichtigte den PSDB-Kandidaten für Sao Paulo, Joao Dória, des Verrats. Offiziell unterstützt die PSDB in der zweiten Runden weder Bolsonaro noch Haddad, Doría hat allerdings schon für Bolsonaro aufgerufen.
Was ist mit der PSOL passiert?
Das Bündnis der links von der PT angesiedelten PSOL (Partei der Freiheit und des Sozialismus) mit der PCB und feministischen Gruppen hatte den vielversprechenden Guilherme Boulos aus der Wohnungslosenbewegung MTST ins Rennen geschickt. Das Ergebnis blieb allerdings mit 0,58 Prozent weit unter den Erwartungen. Offensichtlich konnte Boulos der Polarisierung zwischen Bolsonaro und Haddad nichts entgegensetzen. Die Kampagne der PSOL für die Wahlen zu den anderen Gremien war ansonsten weitaus erfolgreicher als ihre Präsidentschaftskandidatur. Sie konnte sich mit heute fast 150.000 Mitgliedern weiter aufbauen, die Fraktion im Zentralparlament auf 10 Mandate verdoppeln (2,8 Mio.gültige Stimmen, die PT holte 10 Mio.gültige Stimmen) und sich auf Länderebene von 12 auf 18 Abgeordnete steigern. Ihr Erfolg in der wachsenden feministischen Bewegung Brasiliens wird auch daran deutlich, dass die Hälfte ihrer Bundesabgeordneten weiblich ist. In Rio wurden drei ihrer Kandidatinnen aus dem Umfeld der letztes Jahr ermordeten Marielle Franco gewählt.
Weitere Rechtsverschiebung
53 Prozent der (bisher) 513 Abgeordneten im Zentralparlament sind neu, 2014 waren es noch 47 Prozent. Die Zersplitterung ist weiter gestiegen, nachdem nunmehr 30 Parteien vertreten sind, und die weitere Rechtsverschiebung ist frappierend. 230 Abgeordnete gelten als direkte oder potentielle Unterstützer Bolsonaros, die bisher überwiegend noch in anderen Fraktionen sitzen. Er selbst spricht bereits von 300, ohne allerdings Namen zu nennen.
Hinzu kommt, dass inzwischen eine Sperrklausel gilt, die in mehreren Schritten bis 2030 u.a. 3 Prozent festschreibt. Bis dahin dürfte der Druck auf die kleinen rechten und scheinreligiösen Parteien so enorm sein, dass es zu Zusammenschlüssen zugunsten der Bolsonaristen kommt. Rund die Hälfte der Abgeordneten sind – fast wie 2014 – Vermögensmillionäre. Militärs und Polizeioffiziere sind im Zentralparlament mit 20 Plätzen vertreten, auf Länderebene mit 50 und im Senat mit 2. Damit ist die ”Kugelfraktion” weiter erstarkt, ebenso wie die evangelikalen Fundamentalisten und der Grossgrundbesitz. Zusammengenommen spricht man in Brasilien von der Fraktion ”bala, bíblia e boi” (Kugel, Rindvieh und Bibel).
Der sehr hohe Stimmengewinn für Bolsonaro und die extreme Rechte wird von etlichen Kommentatoren auf Unwissenheit und einen niederen Bildungsgrad zurückgeführt, doch das ist abwegig. Nach einer Erhebung des renommierten Instituts Data Folha, die nach der 1. Runde durchgeführt wurde, liegt Haddad bei der Wählergruppe, die bis zu 9 Schuljahren aufweist, mit 44 zu 39 Prozent vor Bolsonaro. Unter den Wählern mit höherem Bildungsgrad liegt der faschistoide Bolsonaro durchgehend vorn: Je höher der Bildungsgrad, desto rechter. Unter den Wählern mit Hochschulabschluss liegt Bolsonaro sogar mit 58 Prozent vor Haddad (30 Prozent).
Ist ein Sieg Bolsonaros in der 2. Runde nicht mehr zu verhindern?
Es erscheint kaum noch möglich, den Sieg Bolsonaros in der 2. Runde zu verhindern, Brasilien und die brasilianische Demokratie stehen politisch am Abgrund. Alle linken und demokratischen Kräfte Brasiliens müssen jetzt aufklären, mobilisieren und nochmals mobilisieren. Sie müssen an die mächtigen, überparteilichen Frauendemonstrationen von Ende September anschließen, die gefordert haben: ”Er nicht!” (Ele nao!).
Haddad wird jetzt von 6 Parteien der Linken unterstützt. Einheitsfront ja, aber die PT muss politisch-programmatisch endlich wieder klare Kante zeigen. Auch nach der Stichwahl, so oder so. Während die politische Rechte – bis hin zum KuKluxKlan in den USA – in vielen Ländern jubelt, haben politische Linke, Demokraten sowie Persönlichkeiten und Bewegungen aus aller Welt wie Bernie Sanders und Roger Waters eindringlich vor einem Wahlsieg Bolsonaros und seinen internationalen Folgen gewarnt.
Sein Sieg ist nicht in Stein gemeisselt. Die Frage ist allerdings, wie Haddad mit einem mehrheitlich so konservativen bis ausgesprochen rechtslastigen Kongress regieren wollte, sollte er doch noch gewinnen. Eine Rückkehr zu den prinzipienlosen Koalitionen während der 2. Regierung Lula und in der kurzen Phase Dilma wäre, wenn überhaupt möglich, politisch tödlich. Es gibt 40 Millionen WählerInnen, die sich nicht festgelegt haben (Summe aus Nichtteilnahme, leeren und ungültig gemachten Stimmzetteln). Allerdings könnten noch weitere Teile des bürgerlichen Lagers ins Lager von Bolsonaro übergehen und in der Anti-PT und Anti-Links-Flut mitschwimmen, die den Treibstoff für Bolsonaro und die extreme Rechte bildet.
Andererseits könnten noch viele vor der Wahl des ausgesprochen rechtsextremen, antisozialen und umweltfeindlichen Kandidaten zurückschrecken, der aus seinen reaktionären Ansichten und Absichten kein Hehl macht. Es gibt bereits mehrere Dutzend aktuelle Fälle, wo politisch Linke, Aktivisten von sozialen Bewegungen und von Minderheiten körperlich angegriffen wurden – eine zusätzliche Warnung, was droht, sollte ein faschistoider und autoritärer Kandidat der nächste Präsident Brasiliens werden.
Ich danke v.a. Luís Leiria, Journalist des portugiesischen Bloco da Esquerda (Linksblock), auf dessen Artikel und Informationen ich mich stützen konnte.
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