Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2018
Schwerpunkt: Klassenanalyse
von Lidia Cirillo*

Seit der Finanzkrise ist die «soziale Frage» wieder stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von linken Aktivistinnen und Wissenschaftlern gerückt, und mit ihr die Frage: Wer ist heute eigentlich noch Arbeiterklasse? Nach den Umbrüchen, die der massiven Internationalisierung des Kapitals, landläufig Globalisierung genannt, und der Einführung von Hartz IV geschuldet sind, ist es alles andere als leicht, die Frage zu beantworten. Grundsätzlich stehen sich drei verschiedene Standpunkte gegenüber: diejenigen mit einem engen Begriff von Arbeiterklasse (bezogen nur auf die manuell Tätigen); diejenigen mit einem weiten Begriff (alle Lohnabhängigen); und schließlich diejenigen, die Klasse nicht als soziologische Zugehörigkeit, sondern als Konstituierungsprozess begreifen. Richtig spannend wird die Beschäftigung mit der Frage dann, wenn es um die Vermittlung zwischen den objektiven, statistisch erfassbaren Bedingungen, den sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten und der realen Bildung von Bewusstseinslagen geht, für die auch andere, äußere, Faktoren eine Rolle spielen. Diesen Knoten wollen wir mit dem vorliegenden Schwerpunkt etwas aufdröseln.
Von einem spürbaren Fehlen einer Arbeiterklasse ist schon bei Marx die Rede. Mehrfach spricht er davon, dass eine Klasse dann eine Klasse ist, wenn sie in der Lage ist, als eine solche zu denken und zu handeln. In der Deutschen Ideologie schreibt er, dass die verschiedenen Individuen dann eine Klasse bilden, wenn sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse voranbringen müssen. In einem Brief an Kugelmann spricht er von seinem Programm als einem Mittel, um die Arbeiter zu einer Klasse zu machen. Im 18.Brumaire schreibt er über die besitzenden Kleinbauern in Frankreich, sie bilden eine Klasse, aber sie sind keine Klasse. Sie bilden eine Klasse, insofern sie unter ökonomischen Bedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen, ihre Kultur von der anderer Klassen unterscheidet, denen sie feindlich gegenüberstehen. Doch sind sie keine Klasse, weil sie keine Gemeinschaft bilden und nicht in der Lage sind, eine Vereinigung und politische Organisation hervorzubringen.
Sicher, Marx sagt auch anderes: So unterscheidet er z.B. zwischen der Klasse an sich und der Klasse für sich, diese Bestimmung lässt er ab einem bestimmten Zeitpunkt aber wieder fallen. Und er verwendet den Begriff Klasse auch dann, wenn er den Arbeiter als «Arbeitstier» und «verrohte Seele» bezeichnet, bevor ihn die «subversive Praxis» freimacht.
Diese mehrdeutige Verwendung eines Begriffs steht nicht der Tatsache entgegen, dass Marx an zahlreichen Stellen die Klasse als etwas lebendiges und aktives denkt – was im übrigen auch im Einklang mit seiner eigenen politischen Praxis steht. Er sieht in der industriellen Arbeiterklasse die Protagonistin des Kampfes gegen die Klassenspaltung, weil die Arbeiter, als er beschließt, sich mit ihnen zu verbünden, schon seit Jahrzehnten die härtesten Kämpfe durchfechten. Erst später macht er sich daran, nach Kriterien und inneren Zusammenhängen zu suchen. Mit dieser Suche ist er nie fertig geworden, da kam ihm der Tod zuvor.
Die Schwierigkeit besteht darin, eine Klasse zu erfassen und zu bestimmen, die sich selber nicht als Klasse begreift. Gibt es einen Klassenkampf ohne eine Klasse, die in der Lage ist, eine Gemeinschaft, eine Vereinigung, eine politische Organisation zu bilden – also ohne wirkliche Klasse? Für Marx offenkundig ja, da doch der Klassenkampf der wahre Motor der Geschichte ist. Andererseits betrachtet er die Industriearbeiter als die erste Klasse in der Geschichte, die in der Lage ist, als Klasse zu handeln und daher in Gänze Klasse zu sein.

Die Gefahr der Paradigmen
Wenn vom Fehlen der Klasse die Rede ist, ist es andererseits nützlich, einige Unterscheidungen zu machen. Zum Beispiel die zwischen Proletariat und Klasse, oder zwischen Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung. Die Gleichsetzung dieser Begriffe führt eher zur Verwirrung, etwa bei dem Hinweis, die Arbeiterklasse und ihre Kämpfe existierten nach wie vor, die Deindustrialisierung sei eine vereinfachte Interpretation der Wirklichkeit und die in der Dienstleistungsbranche Beschäftigten häufig outgesourcte Arbeiterinnen und Arbeiter. Als wüssten wir das nicht…
Das Problem liegt ganz woanders. Es besteht darin, dass die Klasse an sich uns herzlich wenig über die Klasse für sich verrät, wenn wir schon die Begriffe weiterverwenden wollen, die Marx fallen gelassen und Daniel Bensaïd als eine idealistische Illusion bezeichnet hat. Die Ortsbeschreibung des Proletariats zeigt uns ein sehr großes Gebiet, aber nicht wo und wie in diesem Gebiet die Klasse sich zeigen kann und welches ihr Selbstbild wäre. Keine strukturelle Definition der Klasse kann das Problem ihrer Herausbildung lösen.
Die Art und Weise, wie subalterne Klassen in der Geschichte der Gegenwart am gesellschaftlichen Konflikt teilgenommen haben, waren vielfältig, unterschiedlich und stark abhängig von den historischen Bedingungen. Die radikale Linke hat sich traditionell von zwei Modellen leiten lassen, d.h. sie hat unwiederholbare oder unwiederholte historische Ereignisse zu Paradigmen erklärt: das eine war die I.Internationale, das andere die Oktoberrevolution. Sie waren sehr prägend, weil sie spätere Versuche beeinflusst haben, aber die späteren Bedingungen waren immer andere gewesen.
Auch das Fabrikproletariat, selbstähnlich in Bezug auf seine Funktion im Produktionsprozess, die Organisation der Arbeit und den Grad der Konzentration, legte in verschiedenen historischen Situationen radikal verschiedene Verhaltensweisen an den Tag. 1917 schien sich die Prophezeiung von Marx, dass es eine historisch führende Funktion übernehmen würde, zu bewahrheiten, allerdings in einer Situation, wo es selber stark und die Bourgeoisie schwach war. In den USA hingegen, wo es in der Lohnarbeit eine rassistische Hackordnung gibt, kann sie gleichzeitig außerordentliche Gewerkschaftskämpfe führen und für die rassistische Rechte der Republikanischen Partei stimmen. In Italien hat sie Ende der 60er Jahre eine Reformperiode angestoßen, dabei misstrauisch beäugt von den Gewerkschaftsapparaten und der PCI.
Die Arbeiterklasse kann sich nicht nur sehr verschieden verhalten, sie kann auch ihrer Verfasstheit nach sehr verschieden sein. Marx kennt nicht eine, sondern zwei: die handwerklich geprägte Arbeiterklasse, die dem Kapital noch nur formal untergeordnet ist und eine größere Fähigkeit zur Selbstorganisation hat; und das englische Industrieproletariat, das dem Kapital auch real unterworfen ist und schon begonnen hat, eine kräftige Gewerkschaftsbürokratie hervorzubringen.
Im übrigen findet sich das Proletariat nicht allein in der Industrieproduktion. Es gehören dazu auch die Klassen, die im vergangenen Jahrhundetrt die chinesische und die kubanische Revolution gemacht haben, und die hatten wenig gemein mit denen, die die Pariser Kommune hervorgebracht oder das Winterpalais gestürmt haben.

Die Arbeiterbewegung
Die Reduzierung historischer Ereignisse auf Paradigmen täuscht über die Wirklichkeit hinweg. Das galt nicht nur für das vergangene Jahrhundert, es gilt noch mehr für heute. Zu den großen Veränderungen, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, gehört die Auflösung des historischen Gebildes, das wir Arbeiterbewegung genannt haben.
Als Arbeiterbewegung wurde eine komplexe, mit Synergien ausgestattete Kraft bezeichnet, die in Europa und in der Welt das Kapital gezwungen hat, seine Herrschaftsweise zu ändern, um nicht unterzugehen, und diese komplexe Kraft hatte nur teilweise mit der Klasse zu tun. Die Arbeiterklasse, vor allem die der großen Industriebetriebe, bildete natürlich den Kern, um den herum sich der Rest scharte. Aber das Endprodukt hatte unscharfe Konturen, war in sich stark differenziert und von Konflikten durchzogen, aber eben auch Synergien. Ihr Kern hatte eine erhebliche strukturelle Kraft und konnte zum Zentrum eines gesellschaftlichen Konflikts werden.
Einen großen Teil derer, die diese Kraft einst ausmachten, gibt es heute entweder nicht mehr, oder nur noch dem Namen nach, oder zersetzt sich in viele isolierte Bestandteile. Es hieße, jedwedes materialistische Kriterium zu ignorieren, wollte man glauben, die enorme Zerstörung materieller Ressourcen durch die Zersetzung der Arbeiterbewegung des 20.Jahrhunderts habe die Paradigmen von einst nicht erschüttert.

* Die Autorin ist eine seit den 60er Jahren aktive italienische Feministin und Her­ausgeberin der Quaderni Viola. Sie ist Mitinitiatorin des Weltfrauenmarsches in Italien.

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