Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2018
Drei Filme im Fokus
von Kurt Hofmann

Carlo Chatrian, der 2020 die Leitung der Berlinale übernimmt, hat 2018 ein letztes Mal als Direktor das Festival von Locarno programmiert und dabei einmal mehr gezeigt, wie Qualität ermöglicht wird: durch Verzicht auf faule Kompromisse.

Ceux qui travaillent (Jene, die arbeiten)
Schweiz/Belgien 2018
Regie: Antoine Russbach
Frank ist ein Mann der Tat, er lässt sich in seinem Vorgehen als leitender Angestellter nicht beirren und hat stets alles im Griff. Als das zeitgerechte Eintreffen einer Fracht durch einen erkrankten blinden Passagier bedroht wird, trifft er eine folgenschwere Entscheidung – «im Interesse der Firma», die ihn dennoch feuert, weniger aus (geheuchelter) Empörung denn aus der Gelegenheit heraus, einen (allzu eigensinnigen) «Kostenfaktor» loszuwerden… In Ceux qui travaillent sehen wir einen, der es nicht erträgt, plötzlich kein Entscheidungsträger mehr zu sein. Den potenziellen Schwiegersohn hat er noch arrogant belehrt, es gebe nur zwei Sorten von Menschen, «jene, die arbeiten» und die anderen, unwilligen. Und nun das.
Vor der Familie verschweigt Frank seine Entlassung, fährt wie eh und je morgens «zur Arbeit». Psychologische Betreuung durch das Arbeitsamt erträgt Frank ebenso wenig wie die Tatsache, als «Macher» nicht mehr gefragt zu sein, denn die Branche hat von den Umständen seines Rauswurfs erfahren. Als er sich der Familie gegenüber offenbart, erfährt er kein Verständnis. «Es ist dir hoffentlich klar, dass wir ein Anrecht auf unseren Lebensstandard haben?», bekommt Frank von seinem ältesten Sohn zu hören. Nur die jüngste Tochter Mathilde ahnt von alldem nichts. Ihr zuliebe will sich Frank ändern, bis er ein unmoralisches Jobangebot erhält. Jene, die arbeiten ist ein Lehrstück über ein Geschöpf des Kapitalismus. Frank funktioniert wie eine Maschine, Zweifel sind da nicht programmiert.

Sibel
Frankreich/Deutschland/Luxemburg/Türkei 2018
Regie: Guillaume Giovanetti/Cagla Zencirci
Bei der Arbeit im Feld wird Sibel von den anderen gemieden. Wäre sie nicht die Tochter des Dorfvorstehers und hätte der sie nicht zudem zur Jägerin ausgebildet, wer weiß, was eine Stumme hier erdulden müsste.
Sibel ist fünfundzwanzig, stolz und ungebeugt. Was sie zu sagen hat, teilt sie den anderen in der hier verbreiteten Pfeifsprache mit – diese existiert tatsächlich in einigen Gegenden der Türkei. Der Ort ist ein abgelegenes Bergdorf am Schwarzen Meer in der Türkei. Dort raunen die Frauen über einen Wolf, der in den Wäldern herumstreichen soll. Sibel will den Wolf erlegen. Nach der Arbeit präpariert sie Knochen, die das Tier anlocken sollen, gräbt eine Grube, legt sich mit ihrem Gewehr auf die Lauer. Doch statt des mysteriösen Wolfs findet sie eines Tages einen fremden Mann in der Falle. Er ist ein Deserteur und auf der Flucht. Sibel versteckt ihn und entdeckt, dass sie, die Ausgegrenzte, begehrt wird.
Sie verteidigt ihren «Wolf», so lange es möglich ist. Doch die jüngere Schwester hat ihr nachspioniert und denunziert Sibel. Es beginnt eine Hatz auf den «Wolf», an der sich alle außer Sibel beteiligen. Er sei, so sagt die Polizei, ein «Terrorist». Ab jetzt ist nichts mehr für Sibel, wie es war.
Bis auf den Fernsehapparat in der Wohnung des Dorfvorstehers deutet auf den ersten Blick wenig in «Sibel» auf einen gegenwärtigen Bezug hin. Das Dorf scheint abgeschnitten von der Welt und der Zeit. Jedes Detail des alltäglichen Lebens ist ehern vorgezeichnet: so, wie es war, soll es auch bleiben. Da gilt eine wie Sibel, die unbeobachtet herumstreicht, erst das Dorf vom «Wolf» befreien will und später, zur Empörung der anderen, sogar sich selbst, als Abweichlerin und Störenfried.
Im Aus- und Abgrenzen, im Verfolgen, begleitet von aufgeregten Nachrichtensprecherinnen und den Warnungen des allgegenwärtigen Präsidenten im Fernsehen, ist Sibel wieder in der Gegenwart angelangt. Eine Gemeinschaft, die nie hinterfragt, wie sie lebt, macht autoritäre Führer stark. Deshalb gilt auch eine wie Sibel, unangepasst und nicht schweigsam, wiewohl stumm, als nicht akzeptabel.

La Flor
Argentinien 2018
Regie: Mariano Llinás
La Flor, eine dreizehnstündige Reise durch die Filmgenres, aufgeteilt in sechs Episoden, zu sehen in acht Teilen mit vier Schauspielerinnen, die in allen Geschichten im Zentrum der Erzählungen stehen, weckte die größte Neugierde und war auch der Höhepunkt des diesjährigen Festivals von Locarno. Er sei, sagt Mariano Llinás, für dieses Projekt von Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma angeregt worden. La Flor biete sich als fiktionale Variante an...
Da wird listig mit den Erwartungen des Publikums gespielt, verworrene Handlungen werden noch weiter zugespitzt, um plötzlich wieder abgebrochen zu werden («Schlüsse werden überschätzt», bemerkt dazu Regisseur Llinás mit angemessener Ironie in einem Interview). Und wenn sich eine auflodernde Filmmusik zu immer größerer Dramatik aufschwingt, führt das erst recht in die Irre. Die Liebe zu den Genres, ob nun B-Movie, Spionagefilm oder Musical ist La Flor ebenso anzumerken wie die Lust an der Dekonstruktion.

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