Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2018
Das Herzstück sozialistischer Demokratie
von Karel Kovanda*

In den tschechoslowakischen Medien entfaltete sich im Frühjahr 1968 eine intensive öffentliche Diskussion über Fragen der Arbeiterselbstverwaltung. In der Wochenzeitung Reporter erschien im April ein «Offener Brief an die tschechoslowakischen Arbeiter», der zur Bildung einer Arbeiterbewegung für die Selbstverwaltung aufrief.
Den Arbeitern hatten die 1965/66 eingeführten Wirtschaftsreformen bislang nicht viel gebracht. Oft genug hatten sie sogar die Erfahrung gemacht, dass die Betriebsdirektoren ihre neuen Befugnisse gegen die Arbeiter nutzten, z.B. um die Arbeitsnormen heraufzusetzen oder unrentable Betriebe oder Produktionslinien zu schließen. Die Einzelhandelspreise waren leicht, aber spürbar gestiegen, die Arbeitsunsicherheit auch. Unter den Arbeitern war die Skepsis gegenüber den Reformen gewachsen.
Als nun am 5.Januar 1968 Alexander Dubcek zum Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSC) gewählt und damit eine politische Wende eingeleitet wurde, kam die Frage des Verhältnisses zwischen der Partei, den Staatsorganen und der Wirtschaft ganz oben auf die Tagesordnung. Die Arbeiter nutzten die Öffnung und bombardierten den Zentralrat der Gewerkschaften mit Resolutionen, die die Wiederherstellung der Rechte der Arbeiter und eine grundlegende Demokratisierung der Gewerkschaften sowie eine eindeutige Unterstützung von Dubcek verlangten.
Von März an verschafften sie ihren Forderungen Nachdruck durch Betriebsversammlungen, Arbeitsniederlegungen und Streiks, im Mittelpunkt ihrer Forderungen stand die Kontrolle über die Betriebe. In Písek in Südböhmen traten sie in den Streik gegen Pläne, Betriebe zu fusionieren bzw. zu veräußern. Die Bergleute von Doubrava nahe Ostrava in Nordmähren zwangen ihren Direktor abzutreten. Bislang waren das Fragen gewesen, für die allein die zentrale Wirtschaftsbürokratie zuständig war.
Die neue Regierung stand den Arbeiterräten äußerst zurückhaltend gegenüber. Ota Šik war wohl der einzige, dem bewusst war, dass er sich auf sie stützen musste, wenn es gelingen sollte, die alten und inkompetenten Betriebsdirektoren und staatlichen Funktionäre loszuwerden. Mitte Mai veröffentlichte er detaillierte Vorschläge über Struktur und Funktionsweise der Räte. Sie sollten geringfügig mehr Rechte haben als das «schwache Rätemodell» der SKRO vorsah (siehe S.24). Es gelang ihm, die Regierung auf seine Seite zu ziehen, und Ende Mai wurden seine Vorschläge angenommen. Nun konnten im ganzen Land Räte entstehen.

Langsame Ausdehnung
Der Einmarsch der sowjetischen Truppen änderte zunächst wenig an der Existenz der Räte – sie waren nicht der Grund gewesen, weshalb die sowjetische Parteiführung glaubte, ihren tschechischen und slowakischen Parteifreunden zu Hilfe eilen zu müssen. Die Räte erfuhren sogar eine gewisse Aufwertung, denn nachdem der politische Pluralismus liquidiert worden war, stellten sie die einzige noch verbliebene Bastion der Demokratie dar. Ihre Verteidigung und ihr Ausbau war also das Gebot der Stunde, das sahen auch die Liberalen und Technokraten ein. Die Regierung hingegen, aus der Leute wie Ota Šik nun entfernt worden waren, kündigte an, die Reorganisation der Betriebe und insbesondere die «experimentelle Rolle der Räte» müsse sorgsam überprüft werden.
Im September 1968 gab es nur 19 Räte, die tatsächlich funktionierten. Am 1.Oktober sollten 143 weitere ihre Arbeit aufnehmen und bis zur Jahreswende 117 neue gewählt werden. Da sie auf vier Jahre gewählt waren, ging es der Regierung wohl darum, ihre Ausbreitung zu behindern. Ende Oktober erklärte sie denn auch, es sei «nicht angezeigt, diese Erfahrung fortzusetzen». Die Arbeiter verstanden das als Abkehr vom Reformprogramm der KSC vom Frühjahr. Von Gewerkschaftsgliederungen hagelte es Protestnoten an den Zentralrat der Gewerkschaften und an die Regierung. Diese musste zurückrudern, ihre Empfehlung wurde ignoriert, und zwischen September und Dezember wurden zahlreiche neue Räte gebildet. Im Januar 1969 waren 120 aktiv.
Der Industriesoziologe Miloš Bárta hat in einer Studie 95 davon untersucht. Demzufolge waren 38 im Maschinenbau gebildet worden, 14 in der Konsumgüterindustrie, 7 in der Nahrungsmittelproduktion, 6 in der Chemieindustrie und jeweils 2 im Energiesektor und im Bergbau; 11 im Bauwesen, 6 in Kleinbetrieben, 4 in der Landwirtschaft und 1 im Transportsektor. Vorbereitende Komitees gab es in 61 weiteren Betrieben. Ende Juni 1969 wuchs die Zahl der Räte auf 300, weitere 150 waren in Vorbereitung.
Im Januar 1969 repräsentierten die Räte über 800000 Arbeiterinnen und Arbeiter, das war ein Sechstel der Beschäftigten. Sie genossen hohes Ansehen, denn es gab sie auch in den größten Betrieben des Landes: bei Škoda in Pilsen, in der Metallfabrik NHKG in Ostrava/Nordmähren, bei Slovnaft in Bratislava, in den chemischen Werken VCHZ in Pardubice in Ostböhmen, beim Automobilwerk AZNP in Mladá Boleslav in Zentralböhmen, beim Motorenhersteller CZM in Strakonice in Südböhmen usw.

Wie die Räte funktionierten
Die Arbeiter identifizierten sich sehr stark mit den Räten, das zeigt ihre Beteiligung an deren Gründung. Die Initiative dazu ging in 86 Prozent der Fälle vom Gewerkschaftsbund ROH aus. Es wurde ein vorbereitendes Komitee gebildet, das ein Statut und Regeln für die Wahl des Rates entwarf. In allen Fällen sah dieses Statut vor, dass der Rat die Betriebsleitung wählen konnte und festlegte, wieviel sie verdiente; und dass er entscheiden konnte über Fusionen, Aufteilung oder andere organisatorische Umstrukturierungen des Unternehmens. Diese beiden Aspekte waren den Arbeitern am wichtigsten. Darüberhinaus gab es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Statuten. Ein «starkes» Statut konnten die Arbeiter z.B. bei Škoda in Pilsen durchsetzen, dort hatte der Rat die Befugnis, in letzter Instanz über zentrale Fragen der Betriebsführung zu entscheiden.
Die Wahlen wurden überall mit großer Sorgfalt vorbereitet, sie fanden nach unterschiedlichen Verfahren, aber alle geheim statt. Man musste bereits einige Zeit im Betrieb beschäftigt sein, um wählen zu können (zwischen drei Monaten und einem Jahr), damit man mit den Problemen des Betriebs einigermaßen vertraut war. Um gewählt zu werden, musste man mindestens fünf, mancherorts sogar sieben Jahre im Betrieb sein. Über diese Vorkehrung gab es auch Kontroversen, weil sie zulasten der Jüngeren ging.
Die Kandidaten konnten entweder von der Gewerkschafts- oder der Parteiorganisation im Betrieb vorgeschlagen werden. Es wurde aber großer Wert darauf gelegt, dass die Kandidaten aus den Abteilungen kamen und dass sie von den Arbeitern selbst aufgestellt wurden.
Was die Zusammensetzung der Räte betrifft, so konnten die Beschäftigten zwei Drittel bis vier Fünftel der Räte wählen. Nur in Ausnahmefällen konnten sie alle Ratsmitglieder wählen, aber nur in einem Fall eine Minderheit von ihnen. Das Modell der Drittelparität wurde überall verworfen. Nur eine Minderheit der Ratsmitglieder kam von außen: Vertreter von Ministerien, Banken oder Wissenschafter. Einige Statuten erlaubten dem Betriebsdirektor, Mitglied des Rats zu sein oder ihm qua Amt anzugehören, das waren aber eher Ausnahmen. Nicht immer sah das Statut vor, dass der Rat der gesamten Belegschaft verantwortlich zu sein habe.

Welche Leute wurden gewählt?
Frauen machten ganze 4 Prozent der Ratsmitglieder aus, ein beschämender Befund. Etwa 70 Prozent der Ratsmitglieder gehörten zur Altersgruppe zwischen 35 und 49 Jahre, sie wurden als die Geeignetsten befunden, einen Betrieb zu leiten. Etwas mehr als die Hälfte waren Mitglieder der KSC.
Überraschend ist die berufliche Zusammensetzung. 70 Prozent gehörten der wissenschaftlich-technischen Intelligenz an oder hatten mittlere Führungsaufgaben, die Arbeiter im eigentlichen Sinne stellten ein Viertel der Ratsmitglieder. Nur in Ausnahmefällen stellten sie die Mehrheit. Dementsprechend war der Bildungsgrad der Räte im Durchschnitt sogar höher als der der Betriebsdirektoren: 29 Prozent unter ihnen hatte eine höhere Bildung, unter den Betriebsdirektoren waren es nur 20 Prozent (Zahl aus 1966). Offenkundig hatten die Beschäftigten das Gefühl, dass ihre Interessen als Mit-Besitzende und als Unternehmer bei höher Gebildeten besser aufgehoben wären. Diese Unterscheidung zwischen den Beschäftigten als Mit-Besitzende und Beschäftigten als Arbeiter ist wichtig: Wenn es um die Interessen letzterer ging, z.B. bei Gewerkschaftswahlen, wählten die Arbeiter ihresgleichen.
Die Bereitschaft der Arbeiter, sich von der technischen Intelligenz vertreten zu lassen, ist ein Beleg dafür, wie weit die Kluft zwischen beiden sich 1968 schon geschlossen hatte. Sie zeigt aber auch, wie hoch die Arbeiter Bildung und Kompetenz schätzten. Häufig waren die gewählten Techniker aber auch in der Vergangenheit mit den leitenden Bürokraten aneinandergeraten.

Gesetzliche Grundlage sabotiert
Die unmittelbar wichtigste Aufgabe der Räte war, die wirtschaftliche Situation des Betriebs genau zu analysieren und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Bei der Analyse stellten sie häufig fest, dass es gravierende Mängel in der Leitung und eine «zum Verzweifeln mangelhafte» Koordination zwischen den verschiedenen Abteilungen sowie «bizarre» Investitionsentscheidungen der Direktoren gegeben hatte, langfristige Perspektiven fehlten. Oberste Priorität kam daher den Personalentscheidungen zu. Doch in der Mehrzahl der Fälle bestätigten die Räte die alten Direktoren in ihrem Amt, nur sechs wurden abgesetzt. Denn die Räte warteten auf das Gesetz über die sozialistischen Betriebe, es sollte die Basis für ihre Arbeit bilden. Ein Entwurf dieses Gesetzes zirkulierte auch und wurde von den Räten trotz mancherlei Kritik akzeptiert.
Im Februar 1969 aber, nachdem zuvor die CSSR in eine Föderation aus zwei Teilrepubliken verwandelt worden war, grub die tschechische Regierung wieder das «symbolische Modell» und die Drittelparität aus. Daraufhin gab es einen Sturm der Entrüstung und eine wochenlange Debatte, bei der die Arbeiterbewegung geschlossen mit den radikaldemokratischen Teilen der Intelligenz zusammenstand. Die tschechische Regierung musste einen Rückzieher machen. Trotzdem wurde es ein Pyrrhussieg für die Arbeiter: Denn in der Zwischenzeit saßen die alten Bürokraten, Konservativen und Neostalinisten wieder fester im Sattel.
Im April, als das Gesetz beschlossen werden sollte, wurde Dubcek von seinem Posten als Erster Sekretär der KSC entfernt. Die Räte wurden zwar nicht gleich darauf unter Beschuss genommen, aber das Gesetz kam nie zur Abstimmung. Und dies lag nicht daran, dass es von den sowjetischen Brüdern jemals kritisiert worden wäre.

* Karel Kovanda war Industriesoziologe zur Zeit des Prager Frühlings. Er hat die CSSR 1970 verlassen und ging in die USA. 1990 ist er in die Tschechoslowakei zurückgekehrt und hat dort eine diplomatische Karriere eingeschlagen. Der Text ist einer längeren Analyse entnommen, die der Autor 1976 für die US-amerikanische Zeitschrift Telos (Washington University), Nr.28, geschrieben hat. Zusammenfassung und Bearbeitung: ak.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.