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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2018
Wachstum auf Talfahrt
von Cemal Bilgin

Seit der Gründung der Republik bis in die 80er Jahre hat die Türkei eine wirtschaftliche Entwicklung befördert, die auf Importsubstitution setzte (importierte Waren wurden durch Eigenprodukte ersetzt). Einheimische Hersteller wurden mit protektionistischen Maßnahmen und verschiedenen Anreizen gefördert, bis sie in der Lage waren, die benötigte Ware im Inland herzustellen.
In den 80er Jahren ging die Türkei unter dem Druck des kapitalistisch-imperialistischen Weltmarkts zur «freien Marktwirtschaft» und zum Freihandel über, 1986 wurde die erste Börse gegründet. Seitdem hat der türkische Kapitalismus seine relative Selbständigkeit eingebüßt, er ist vom kapitalistischen Weltmarkt abhängig und offen für Investitionen des internationalen Kapitals. Das einheimische Kapital hat sich diesen Bedingungen angepasst. Unter diesen Umständen ist die türkische Wirtschaft zu einem Verwertungsort für die Finanzderivate des internationalen Kapitals geworden. Das heißt u.a., dass man nicht mehr auf eigene Kapitalakkumulation setzt, sondern ausländisches Kapital bevorzugt. Die türkische Wirtschaft ist auf die Zufuhr ausländischen Kapitals angewiesen, ihr Wachstum hat sie ausländischem Kapital zu verdanken.

Die Betonwirtschaft der AKP
Die AKP ist die Partei des politischen Islam. Sie vertritt auf der einen Seite gewisse archaische Vorstellungen, die nicht «zeitgemäß» sind und zum globalisierten Kapitalismus nicht passen. Um ihrer politischen Ziele willen («Primat der Politik») hat sie allerdings auf ihre eigenen Wirtschaftsvorstellungen verzichtet und die Erwartungen des internationalen Kapitals erfüllt.
Trotzdem hat sie im Rahmen des Kapitalismus ein eigenes Modell entwickelt, es nennt sich kurz «Betonwirtschaft». Es bedeutet, dass prioritär die Bauwirtschaft mit unterschiedlichen Maßnahmen und staatlichen Infrastrukturprojekten gefördert wird. Industriezweige, die mit Bauen zu tun haben, werden damit ebenfalls angekurbelt. Auf der anderen Seite wird der Wechselkurs durch kurzfristige liquide Mittel aus dem Ausland künstlich niedrig gehalten, um den inneren Konsum (Wohlstand) zu fördern.
Das Modell war darauf angelegt, einen immer größer werdenden Teil des wirtschaftlichen Surplus umzuverteilen, um eine neue herrschende Klasse zu schaffen. Diese neue Klasse ist eigentlich eine parasitäre Klasse, die Ressourcen verschlingt.
Dadurch ist die türkische Wirtschaft mittlerweile aber zu einer Volkswirtschaft geworden, die ihre Produktivität nicht effektiv steigern und nicht aus eigener Kraft eine Akkumulation herbeiführen kann. Sie hat sich verschuldet um zu konsumieren, finanzielle Ressourcen flossen in Infrastrukturprojekte, die z.T. gar nicht sinnvoll sind und kurzfristig keinen wirtschaftlichen Vorteil schaffen. Das große Außenhandelsdefizit belastet sie zusätzlich.

Das Führerprinzip ­verschärft die Krise
In ihren 16 Regierungsjahren hat die AKP das rationale, laizistische Bildungssystem in ein religiös geprägtes System umgewandelt, um ihre Macht zu konsolidieren. Dadurch ist das Bildungssystem jedoch zusammengebrochen, die hochgelobten und privilegierten Imam-Hatip-Schulen haben die gewünschte Beliebtheit nicht erreicht. Zahlreiche junge Menschen sind ohne Bildung und berufliche Ausbildung, sie stellen ein explosives Potenzial dar. Dabei benötigt der türkische Kapitalismus, der in den Weltmarkt integriert ist, wissenschaftlich gebildete Fachkräfte in den Bereichen Technik, Finanzwesen, Produktion.
Die warenexportierende Industrie in der Türkei ist so stark auf Importe angewiesen, dass sie, um eine Ware im Verkaufswert von 100 Euro zu produzieren, Waren im Wert von 65–70 Euro importieren muss. Öffentliche Ausgaben werden gar nicht mehr kontrolliert und gebremst, zumal das Parlament jetzt völlig machtlos ist.
Die Unabhängigkeit der Justiz wurde aufgehoben, es besteht keine Rechtssicherheit, was auch bedeutet: keine Vertragssicherheit. Kompetente Fachleute im Staatsapparat wurden aus politischen Gründen entfernt. Stattdessen wurden Ämter mit Leuten besetzt, die sich nur noch durch blinden Gehorsam auszeichnen.
Letztenendes ist das Regime im Laufe der Zeit mehr oder weniger zur Willkürherrschaft eines Einzelnen geworden, der nach Belieben in das Wirtschaftsgeschehen eingreift. Dies wird auf internationaler Ebene zunehmend untragbar. Die Türkei wird im Ausland heute als ein Land wahrgenommen, in dem Rechtsnormen nicht eingehalten werden und Kontrollmechanismen nicht mehr funktionieren.
Dies alles macht sie «krisenanfällig». Das Verhältnis der Auslandsschulden zum Bruttosozialprodukt, das Defizit in der Leistungsbilanz, das Verhältnis zwischen Ersparnissen und Investitionen, die Firmenschulden im Ausland zeugen davon. Dagegen hat die Regierung bislang keine wirksamen Maßnahmen getroffen.
Erdogans Erklärung vor den Wahlen, er werde als Kopf der Exekutive die Zentralbank regieren und die Effektivzinsen auf Null zurückfahren, hat die Geldanleger nur noch mehr verunsichert. Seiner Meinung nach ist die Inflation eine Folge der hohen Zinsen.
Die von Trump verhängten Sanktionen haben in der Türkei deshalb eine Wirtschaftskrise ausgelöst. Insbesondere der Wechselkurs der Lira gegenüber ausländischen Währungen ist drastisch gefallen, was zu einer deutlich höheren finanziellen Belastung sowohl für den Staat, als auch für Privatfirmen und Banken führt.
Immerhin kann die AKP mit einem politischen Rückhalt in der Bevölkerung rechnen. Sie erreicht das nicht dadurch, dass sie Erwartungen erfüllt und Probleme löst, sondern dadurch, dass sie für ihre Untaten Ausreden findet und Menschen überredet.
In all diesen Jahren hat Erdogan eins gelernt, nämlich wie man aus einer Krise eine Gelegenheit macht und für ungelöste Probleme und Misserfolge innere und äußere Feinde verantwortlich macht. Aufgrund seiner Medienmacht bestimmt er, wie ein Thema in der Öffentlichkeit gehandhabt wird. Die jetzige Krise tut er als reinen Wirtschaftskrieg ab, bei dem die Türkei feindseligen wirtschaftlichen Angriffen ausgesetzt sei.
Letzten Endes ist diese Krise sowohl eine des Wachstumsmodells der AKP-Regierung als auch eine des Erdoganismus.

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