Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2018

Über die Bedeutung von Klassenbewusstsein
Gespräch mit Ken Loach

Der britische Filmregisseur Ken Loach ist einer der angesehensten Filmemacher unserer Zeit. Er ist ein sehr engagierter Künstler und einer der wenigen Regisseure, die zweimal die prestigeträchtige Goldene Palme von Cannes erhalten haben. In seinem Werk greift er oft soziale oder politische Themen auf. Sein Werk umspannt den spanischen Bürgerkrieg (Land and Freedom), den Streik der Hausmeister von Los Angeles (Bread and Roses), die Besetzung des Irak (Route Irish), den irischen Unabhängigkeitskrieg (The Wind that Shakes the Barley) und den Zwangsaspekt des Wohlfahrtsstaats (I, Daniel Blake). Ken Loach ist einer der wichtigsten Erzähler des Bewusstseins der Arbeiterklasse und dessen Veränderung in der Zeit des Neoliberalismus.
Im Gespräch mit dem italienischen Autor und Aktivisten ­Lorenzo Marsili spricht Loach über die Rolle der Kunst in Zeiten politischer Umwälzung, die Entwicklung der Arbeiterklasse, die Bedeutung des Klassenkampfs heute und das Versagen der Linken, eine radikale Veränderung anzustoßen. Das Gespräch wurde im Zuge der Dreharbeiten zu ­einem Dokumentarfilm geführt, bei dem Lorenzo Marsili quer durch Europa reist, um die transnationale Solidarität zehn Jahre nach der Finanzkrise zu erforschen.


Der Diskurs über die Rolle der Kunst für den politischen Wandel hat eine lange Geschichte. Zur Zeit erleben wir einen großen geopolitischen Wandel und eine globale Desorientierung. Wie stellen Sie sich vor, welche Rolle Kreativität unter solchen Umständen spielen kann?

Im allgemeinen glaube ich, man sollte in der Kunst nur die Verantwortung haben, die Wahrheit zu sagen. Jeder Satz, der mit «Kunst sollte…» beginnt, ist falsch, weil er auf der Vorstellung oder Wahrnehmung der Leute wiedergibt, die schreiben oder malen, oder beschreibt, welche verschiedenen Funktionen Kunst haben kann. Wir müssen die Grundprinzipien unseres Zusammenlebens festhalten. Die Rolle von Autoren, Intellektuellen und Künstlern ist es, diese Kernprinzipien zu erkennen. Das ist ein langer Blick auf die Geschichte, auf den Kampf; wenn man etwa einen taktischen Rückzug machen muss, ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass dies ein Rückzug ist und man die Grundprinzipien im Kopf behalten muss. Leute, die nicht täglich mit Taktieren beschäftigt sind, können das tun.


In Ihrer Arbeit ist das menschliche Element nicht nur eine Illustration der Theorie, es verkörpert und wird zum politischen Element. Hat Kunst die Macht zu zeigen, dass hinter den großen wirtschaftlichen und politischen Vorgängen Menschen stehen?

Absolut. Politik lebt in den Menschen, Ideen leben in den Menschen, sie leben in den konkreten Schwierigkeiten, die Menschen haben. Sie bestimmt auch die Wahlmöglichkeiten, die wir haben, und diese bestimmen wiederum, zu welcher Art von Menschen wir uns entwickeln. Wie Familien miteinander umgehen, ist kein abstraktes Konzept von Mutter, Sohn, Vater, Tochter, es hat mit wirtschaftlichen Bedingungen zu tun, mit der Arbeit, der wir nachgehen, der Zeit, die wir miteinander verbringen können. Wirtschaft und Politik sind mit dem Umfeld verbunden, in dem Menschen ihr Leben leben, aber die Details dieser Leben sind sehr human, oft sehr lustig oder sehr traurig oder voller Widersprüche und Komplexität. Für die Autoren, mit denen ich gearbeitet habe, und für mich war der Zusammenhang zwischen der persönlichen Komödie des täglichen Lebens und dem wirtschaftlichen Kontext, in dem unser Leben stattfindet, immer sehr wichtig.


Es gibt also einen dialektischen Zusammenhang, wie wirtschaftliche Veränderung menschliches Verhalten ändert, und menschliches Verhalten, vor allem durch kollektive Aktion, wirtschaftliche Zusammenhänge verwandelt?

Stellen wir uns einen Arbeiter vor. Seine bzw. ihre Familie funktioniert oder versucht zu funktionieren, aber individuell haben sie keine Stärke, weil sie über keine Macht verfügen. Sie sind schlicht und einfach ein Geschöpf der Situation. Aber ich denke, dass das Bewusstsein von kollektiver Stärke etwas sehr wichtiges ist. Hier wird es schwierig. Es ist nicht einfach, eine Geschichte zu erzählen, bei der die kollektive Stärke sofort auffällt. Andererseits ist es oft krude und dumm, jeden Film mit einer in die Luft gestreckten Faust und dem militanten Ruf zur Aktion zu beenden. Das ist ein ewiges Dilemma: Wie erzählt man die Geschichte einer Arbeiterfamilie, die tragisch von den wirtschaftlichen und politischen Umständen zerstört wird, ohne die Menschen verzweifelt zurückzulassen?


Das, was ich sogar in einem trostlosen Film wie I, Daniel Blake hoffnungsvoll finde, ist, dass wir zwar den Zwang ausübenden Staatsapparat sehen, aber auch die Widerstandskraft einer bestimmten menschlichen Solidarität: Die Armen helfen einander, und die Leute bleiben stehen und applaudieren, wenn Daniel Blake eine ätzende Botschaft an die Mauer des Jobcenters schreibt. Das suggeriert, dass wir nicht vollkommen in einen Homo oeconomicus verwandelt worden sind, dass es immer noch Widerstand gegen die Warenförmigkeit des Lebens gibt.

Ja, das ist etwas, was die bürgerlichen Kommentatoren nicht verstehen: Arbeiter werden verarscht, auch wenn sie lachen. In den Schützengräben gibt es eine bittere Komik, und dort sehen wir den Widerstand, sogar in den dunkelsten Winkeln. Wir haben diese Zunahme von Tafeln, wo wohltätiges Essen ausgegeben wird und man die zwei Seiten unserer Gesellschaft sieht. In I, Daniel Blake sagt die Frau, die einer anderen Frau ein Essenspaket aushändigt, nicht: «Hier ist Ihr wohltätiges Essen», stattdessen sagt sie: «Kann ich Ihnen beim Einkaufen helfen?» Einerseits gibt es diese Großzügigkeit, andererseits ist da der Staat, der auf die grausamste Art und Weise handelt, wissend, dass dies Menschen zu Hungerleidern macht. Die kapitalistische Gesellschaft ist in dieser schizophrenen Situation gefangen und ist auf uns angewiesen, dass wir Solidarität organisieren.


Oft scheint es so, als ob die traditionelle wirtschaftliche Entfremdung sich in eine Entfremdung gegenüber dem Staat verwandelt hat. Glauben Sie, dass das der Kern solcher Phänomene wie das Erstarken des Nationalismus, der Fremdenfeindlichkeit, sogar des Brexit ist? Abgesehen davon, dass die Migranten zu Sündenböcken gemacht werden, gibt es ja auch dieses Gefühl, dass «niemand für mich einsteht».

Ja, ich glaube, in Wahrheit verweist dieser rechte Populismus auf das Versagen der Linken – ganz ähnlich wie in den 1920er und 1930er Jahren. Die rechten Parteien kommen mit einer sehr einfachen Antwort daher: Das Problem ist dein Nachbar, dein Nachbar hat eine andere Hautfarbe, dein Nachbar kocht Essen, das anders riecht, dein Nachbar nimmt sich deinen Job, dein Nachbar ist in deinem Haus. Die Gefahr ist, dass dies von den Massenmedien unterstützt, toleriert und von Sendern wie BBC verbreitet wird, die z.B. Nigel Farage all die Sendezeit gegeben hat, die er wollte.


Im Mittelpunkt Ihrer Arbeit stand immer die Solidarität der Arbeiterklasse. Sie haben den Wandel vom sozialen Kapitalismus zum Neoliberalismus mitgemacht. Hat sich Klassensolidarität in dieser Zeit geändert?

Die wichtigste Veränderung war die Abnahme der Macht der Gewerkschaften. In den 50er und 60er Jahren wurden sie stark, weil die Menschen in gesellschaftlichen Verbänden wie Fabriken, Bergwerken oder Werften gearbeitet haben und es leichter war, Gewerkschaften zu organisieren. Aber diese alten Industrien sind gestorben. Heutzutage arbeiten Menschen auf viel fragmentiertere Weise. Wir sind am stärksten, wenn wir die Produktion stoppen können, wenn wir jedoch auf der Produktionsebene nicht organisiert sind, sind wir definitiv schwächer. Das Problem ist, dass die Produktion heutzutage so fragmentiert ist und unsere Arbeiterklasse durch die Globalisierung nunmehr im Fernen Osten oder in Lateinamerika lebt.


Deliveroo- oder Foodora-Beschäftigte auf einem Fahrrad sehen sich womöglich selber gar nicht als Arbeiter?

Ja, oder sie haben eine Lizenz und nennen sich «self-employed», selbständig. Das ist ein Riesenthema. Da geht es um die Organisierung der Arbeiterklasse.


Glauben Sie, dass das Konzept «Arbeiterklasse» noch sinnvoll ist? Viele Leute würden sich selber nicht als Teil der Arbeiterklasse sehen, obwohl sie arm sind und sich sicherlich oft miserabel fühlen?

Ich glaube, dass Klasse grundlegend ist. Sie ändert ihre Form, je nachdem sich wie die Anforderungen des Kapitals an eine andere Art von Arbeit verändern. Die Ausbeutung bleibt aber gleich, es wird sogar mehr Mehrwert ausgepresst als früher. Noch wichtiger ist, dass wir gar nichts verstehen, wenn wir den Klassenkampf nicht verstehen.


Das ist heute eine der großen Herausforderungen: Den Kampf in einer fragmentierten Bevölkerung neu zu entfachen, die sich selber nicht als Teil eines Kollektivs wahrnimmt.

Es ist eine Herausforderung für unser Verständnis. Neulich hatte ich ein kurioses Erlebnis: Ich sprach mit sehr netten Leuten aus Japan, die einen Artikel schrieben, und ich bestand auf der Notwendigkeit, Klasse und Konflikt zu verstehen. Eine sehr nette Frau sagte zu mir: «Wir werden Ihren Film den japanischen Regierungsverantwortlichen zeigen», und ich meinte: «Ach, warum?», und sie sagte: «Nun, um ihre Meinung zu ändern», und ich antwortete: «Aber das ist doch das, was ich gerade sagen wollte! Sie werden nicht ihre Meinung ändern, sie sind dazu verpflichtet, die Interessen der herrschenden Klasse zu verteidigen, sie müssen nicht überredet werden, sie müssen entfernt werden!» Es ist sehr schwer, das verständlich zu machen, wenn die Vorstellung so tief verankert ist, dass das System doch funktionieren sollte. Das ist eine der schrecklichen Folgen der Sozialdemokratie, die wir bekämpfen müssen.


Es ist eine effektive Art der sozialen Kontrolle, wenn Ihre Gesprächspartner glauben, sie könnten mit denen reden und ihre Bedenken berücksichtigen…

Das ist der Grund, warum wir die Idee der Übergangsforderungen neu aufleben lassen müssen. Wir müssen Forderungen aufstellen, die auf vernünftige Weise auf den Interessen der Arbeiterklasse beruhen.


Für mich ist interessant, dass wir hier in Großbritannien nie richtig über Europa diskutiert haben. Plötzlich, nach dem Brexit, redet jeder über die EU, es ist das meistdiskutierte Thema nach Fußball. Meinen Sie, dass es immer noch Hoffnung gibt für eine transnationale Demokratie oder ist es schlicht zu spät?

Ich habe wirklich keine Antwort darauf. Ich glaube aber, dass internationale Solidarität wichtig ist. Kann sie innerhalb Europas organisiert werden? Ich weiß es nicht. Die Struktur der EU ist so schwierig, es ist schwer zu sehen, wie wir sie verändern können, ohne sie völlig neu aufzubauen. Jede Veränderung muss von jeder Regierung abgesegnet werden, und wir alle wissen, wie schwierig dieser Prozess in der Praxis ist. Klar, wir brauchen ein anderes Europa, das auf anderen Prinzipien beruht: auf Gemeineigentum, Planung, eine Wirtschaft, die soziale Ungleichheit beseitigt, Nachhaltigkeit und, allgemein gesprochen, mehr Gleichheit. Aber wir können das nicht erreichen, solange die Großunternehmen bevorzugt werden, der Profit Vorrang hat und das Rechtssystem dem Profit dient. Solche Veränderungen zu erreichen, ist jenseits meiner Kompetenz. Yanis Varoufakis versichert mir, dass es getan werden kann. Ich bin sicher, dass er recht hat. Ich vertraue ihm, aber ich weiß nicht, wie es geschehen kann.

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