von Manfred Dietenberger
Viel gescheitere Köpfe als ich haben sich mit viel Fleiß und Hirnschmalz immer wieder neu daran gemacht, eine aktuelle Klassenanalyse des Kapitalismus hierzulande und in der Welt zu erstellen – im festen Glauben, dass man nur mit einer möglichst exakten, bis in alle Verästelungen der Produktion und Gesellschaft reichenden Klassenanalyse in der Lage sei, den Kapitalismus zu bekämpfen. Dieser Mühe unterzog sich meine – leider längst verstorbene – Genossin Kreszentia K. aus Friedrichshafen nie. Und dennoch war sie eine der Unverzichtbaren im Kampf für den Sozialismus.
Von mir gefragt, wie sie denn in den 20er Jahren den Weg zur KPD gefunden habe, antwortete sie kurz und bündig: «Woischt Manne, ich war mein Leben lang Putzfrau und deshalb in der Roten Hilfe. Do hon ich mein Mann kennen und lieben gelernt, der war Arbeiter und in der KPD, do war für mich klar, do kehr ich auch na.» Bei Streiks und Demonstrationen fand man sie immer an seiner Seite. Bis zum Ende ihres Lebens blieb sie Mitglied der organisierten Arbeiterbewegung. Diese tapfere, ja stolze Proletin wusste auch ohne dicke Bücher, wo ihr Platz im Klassenkampf ist, und man fand sie immer auf der richtigen Seite der Barrikade. Ihr Klasseninstinkt reichte ihr als Kompass.
Dieser Klasseninstinkt und der Stolz auf ihre Arbeit ist den arbeitenden Menschen abhanden gekommen. Inzwischen hat sich die Welt der Arbeit sehr verändert. Heutzutage brauchen wir die wissenschaftliche Durchdringung der Frage, wer zur Arbeiterklasse gehört, denn die kapitalistische Arbeitsteilung gaukelt uns vor, die Arbeiterklasse sei inzwischen in ihre Atome zerfallen. Und in der Tat müssen wir uns von dem fälschlich idealisierten Bild verabschieden, in dem der Arbeiter im Blaumann und der Angestellte im grauen Kittel zusammen die Fabrik am laufen halten.
Nicht nur, aber auch deshalb habe und lese ich «meinen Marx» immer und immer wieder. Und so weiß ich, allein die Tatsache, dass jemand durch seine Arbeit dazu beiträgt, den Reichtum der Gesellschaft zu erzeugen, macht ihn oder sie nicht automatisch zum Teil der Arbeiterklasse. Die Klassenzugehörigkeit ergibt sich eben nicht aus der Arbeit, die einer verrichtet, sondern durch seine Stellung im Produktionsprozess.
«Das Produkt verwandelt sich überhaupt aus dem unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d.h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehen.
Mit dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses selbst erweitert sich daher notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters. Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehen.» (MEW 23:531.)
Kürzer: Die Lohnarbeit – oder anders: die Erwerbsarbeit – weist «automatisch» den Arbeitenden, egal ob als Normalarbeiter, Leiharbeiter, Prekäre, Scheinselbständige oder anders an der Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums Beteiligte, ihren Platz an der Seite des Klassenkerns zu. Entscheidend ist, ob ein Mensch gezwungen ist, seine Arbeitskraft (an den Kapitalisten) zu verkaufen, um selbst oder zusammen mit seiner Familie angemessen und «auskömmlich über die Runden zu kommen». Wer keine Produktionsmittel besitzt, ist Teil der Arbeiterklasse und daher meine Klassengenossin.
Im Zentrum meines Interesses an einer möglichst aktuellen und präzisen Klassenanalyse steht für mich ihre Tauglichkeit im Kampf in Betrieb und Gesellschaft, gegen Lohnarbeit und Kapital. Doch auch die beste Klassenanalyse ist nur eine Krücke. Wer im unversöhnlichen Kampf Klasse gegen Klasse obsiegt, «die Frage löst sich auf in die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden» (MEW 16:149). Daher ist es an der Zeit, dass sich die Arbeiterklasse von einer Klasse an sich zur Klasse für sich formiert.
Pierre Bourdieu sagt: «Von der nur auf dem Papier existierenden Klasse zur ‹realen› Klasse kommt man nur um den Preis einer politischen Mobilisierungsarbeit. Die ‹reale› Klasse … ist immer nur die realisierte, d.h. mobilisierte Klasse.» Aus diesem Grund müssen die Gewerkschaften wieder zu einer gesamtgesellschaftlich agierenden Kraft werden. Dazu müssen sie sich von ihrem bisherigen, hauptsächlich auf die betriebliche Ebene fixierten Blick lösen. Deshalb plädiere ich für die Ausweitung des Kampffelds über die Betriebe und Fabriken hinaus auf die Stadt, die Region und entlang der Produktionskette bis in die entferntesten Länder unseres gemeinsamen Erdballs.
Ist das zu blauäugig, wo es doch schon so schwer genug ist, alle Kolleginnen in den Betrieben für die Gewerkschaft zu gewinnen? Zumindest nicht ganz. Schon früher gab es solche Ansätze in den Gewerkschaften. Ich konnte selbst erleben und mitwirken, als man sich in den Gewerkschaften daran machte, DGB-Ortskartelle aufzubauen, die als Schnittstellen zu Bürger- und anderen Initiativen geeignet waren, gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft zu kämpfen.
Der gemeinsame Kampf um «unsere Stadt», z.B. um bezahlbare Wohnungen, gegen den Privatisierungswahn und für mehr soziale Infrastruktur, ist das beste Gegengift gegen die Pest des reinen betrieblichen Denkens, die Standortlogik, Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit.
Um dem täglichen Kleinkrieg für die Erhaltung und Verbesserung der Lebenslage aller abhängig Arbeitenden in den Betrieben, Verwaltungen, an Heimarbeitsplätzen und anderswo eine über den eigenen Arbeitsplatz und die kapitalistische Gesellschaft hinausreichende Perspektive zu eröffnen, muss es gelingen, deren jeweilige Sonderinteressen zu einem bewussten und einheitlichen politischen Kampf zusammenzuführen.
Es gilt, übergreifende Ziele aufzuspüren, die es möglich machen, die verschiedenen Fraktionen der Klasse zusammenführen. Mir fallen dazu ein: der Kampf für eine drastische Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und gegen die Rente mit 67, für einen auskömmlichen und vor Altersarmut schützenden Mindestlohn und für eine armutsfeste Grundsicherung aller sozial Ausgegrenzten. Dazu gehört auch der Kampf gegen die Privatisierung von öffentlichem Eigentum, gegen Hartz IV, für die Umverteilung des Reichtums von oben nach unten, für die Vergesellschaftung der Banken und der Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Ich behaupte, je öfter man sich auch in außerbetrieblichen Zusammenhängen aktiv zeigt, trifft und kämpft, umso leichter wird es sein, sich in den Betrieben besser gegen die alltäglichen Grausamkeiten der Diktatur des Kapitals zur Wehr zu setzen.
Erfolge werden nicht ausbleiben, sind aber nicht das alleinige Ziel: «Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.» (MEW 4:471.)
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