von Hermann Dierkes
In den SoZ-Ausgaben vom Oktober und November 2018 haben wir die Ergebnisse der beiden Wahlrunden (Präsidentschafts-, Kongress-, Landtags- und Gouverneurswahlen) in Brasilien aus soziologischer und geografischer Sicht analysiert. Ihre Ergebnisse bringen – bis auf regionale Ausnahmen, vor allem in Nordosten – eine tiefgreifende politische Rechtswende zum Ausdruck. Wir wollen uns im Folgenden mit den tieferen Ursachen der schweren Niederlage der Linken befassen, den Bolsonarismus und seine widersprüchlichen Perspektiven näher untersuchen.
Der grösste Teil der hochgradig konzentrierten Medien hatte sich auf eine umfassende Kampagne gegen die seit 2003 führende Regierungspartei PT eingeschossen, die einer politischen Steinigung gleichkam. Diese Kampagne hämmerte erfolgreich großen Teilen der Bevölkerung ein, dass die Korruption nie schlimmer gewesen sei als unter der PT und dem von dieser Partei gestellten Staatspräsidenten Lula. Gleichzeitig leistete ein beträchtlicher Teil der Justiz der Kampagne Vorschub – insbesondere durch die Machenschaften des Richters Moro, der u.a. die Medien des Globo-Konzerns systematisch mit angeblichem Ermittlungsmaterial gegen Lula und die PT fütterte. Höhepunkt war die Verurteilung und Inhaftierung des nach wie vor populären Lula wegen Geldwäsche und Korruption trotz dürftigster oder fehlender Beweislage.
Die PT und ihre Bündnispartner mussten mit dem in dem riesigen Land nur wenig bekannten früheren Oberbürgermeister von Sao Paulo und ehem. Bildungsminister, Fernando Haddad, gezwungenermassen einen Ersatzkandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft schicken. Kein Zufall, dass Richter Moro vom gewählten Präsidenten Bolsonaro zum neuen Justizminister bestellt wurde. Finanzkapital und Wirtschaft standen eindeutig im Lager des faschistoiden Kandidaten, der ihnen, zusammen mit seinem ultraliberalen Wirtschaftsguru Paulo Guedes, eine radikale Verschärfung des nach dem Sturz der Präsidentin Dilma Rousseff (PT) seit 2015 laufenden ”Liberalisierungsprozesses” zugesagt hatte: die Privatisierung der letzten strategischen Staatsunternehmen (Petrobras, Eletrobras, Embraer usw.), weitere massive Verschlechterungen im Arbeits- und Sozialrecht, die Freigabe Amazoniens für die weitere Abholzung der Regenwälder, die Ausweitung der grossagrarisch nutzbaren Flächen (v.a. Soja, Viehzucht, Zuckerrohr) und die ungezügelte Ausbeutung der Bodenschätze, die Missachtung der Rechte der Ureinwohner, den Austritt Brasiliens aus dem Pariser Klimaabkommen usw.
Bolsonaro und seine Unterstützer, auch in den anderen bürgerlichen Parteien, konnten – unter offener Missachtung der noch zu PT-Zeiten verschärften Wahlgesetzgebung – reichlich illegale Spenden einsacken. So finanzierte u.a. die Einzelhandelskette Hang massive Lügen- und Verleumdungskampagnen über WhatsApp und Facebook und zwang ihre Angestellten zur Stimmabgabe für den rechten Kandidaten. Das oberste Wahlgericht (STE) erwies sich als unfähig, mit energischen Schritten dagegen vorzugehen und in der Konsequenz die Liste Bolsonaro für ungültig zu erklären. Korruption und Gewaltkriminalität – die in der Tat viele Brasilianer betreffen – waren zunehmend Bolsonaros Wahlkampfthemen, auf niedrigstem Niveau: ”erschiessen”, ”härtere Strafen”, ”Liberalisierung des Waffenbesitzes” u. dgl. mehr. Dass die hohe Gewaltkriminalität etwas mit der extremen sozialen Ungleichheit zu tun hat, und diese bekämpft werden muss, diese Erkenntnis gibt es in seiner ideologischen Welt nicht.
Sein abgrundtiefer Hass gegen die PT und alles Linke, gegen soziale Bewegungen wie die MST und die MTST symbolisierte sich in seinem ”Markenzeichen”: Das von der PT genutzte Zeichen ”L” – ausgestreckte Daumen und Zeigefinger in Solidarität mit dem inhaftierten Lula – verwandelte er beidhändig in eine Maschinenpistole und überschlug sich in Gewaltrhetorik. Aus seiner Verachtung gegenüber der schwarzen und häufig armen Bevölkerung machte er kein Hehl. Er inszenierte sich als ”Anti-Establishment-Kandidat”, obwohl er schon seit 28 Jahren als Hinterbänkler im Parlament sitzt, zusammen mit seinen ebenfalls als rechtsradikale Abgeordnete aktiven Söhnen ein großes Vermögen anhäufte und außer ständigen Partei- und Fraktionswechseln, antisozialem Abstimmungsverhalten und rechtsradikalen, homophoben und frauenfeindlichen Sprüchen durch nichts aufgefallen war.
Zahlreiche rechts eingestellte, aktive und pensionierte Militärs und Polizisten, die in ”der Kugel” die Lösung aller Probleme sehen, fundamentalistische Evangelikale und korrupte Politiker verschiedener Schattierung bilden seine Kernmannschaft und sein Umfeld. Etliche werden jetzt Minister und hohe Staatsfunktionäre. Während des Wahlkampfs gab es zahlreiche rechtsradikale Kundgebungen und etliche Übergriffe, Tätlichkeiten und sogar Mordanschläge gegen Linke, Menschen aus dem LGBT-Milieu und Landlose.
Bolsonaro ging arrogant allen Kandidatendiskussionen aus dem Weg, wobei er seine Verletzungen aus einer Messerattacke durch einen psychisch Kranken vorschob, aber gleichzeitig in seinen Milieus unterwegs war, u.a. beim privaten Fernsehsender und der ihn vor allem wegen seiner Homophobie unterstützenden evangelikalen Universalkirche. Bolsonaro und seine Berater wussten, warum. In offener Kontroverse wäre die Hohlheit, Sozial- und Menschenfeindlichkeit seiner Argumentation offensichtlich geworden.
Die entscheidende Frage jedoch, die sich stellt, lautet: Wie ist es dazu gekommen, dass die politische Linke in Brasilien dermassen in die Defensive geraten ist, eine rechte Welle das Land überflutet hat und ein so offen reaktionärer Kandidat zum Präsidenten gewählt wurde? Dabei ist gar nicht entscheidend, was für ein Individuum Bolsonaro ist. Vielmehr ist es an dieser Stelle nützlich, sich an eine analytische Bemerkung von Leo Trotzki in Bezug auf Hitler zu halten: ”Jeder Führer ist immer ein Verhältnis zwischen Menschen, ein individuelles Angebot auf eine kollektive Nachfrage. Die Erörterungen über die Persönlichkeit Hitlers sind umso hitziger, je mehr man das Geheimnis seines Erfolges in ihm selbst sucht. Doch es ist schwer, eine andere politische Gestalt zu finden, die in einem solchen Maße Knoten unpersönlicher geschichtlicher Kräfte wäre. Nicht jeder erbitterte Kleinbürger könnte ein Hitler werden, aber ein Stückchen Hitler steckt in jedem von ihnen.” (Porträt des Nationalsozialismus, Juni 1933).
Die grossen strategischen Fehler der PT
Wie ist in Brasilien die ”kollektive Nachfrage” nach einem derartigen Individuum und einer solchen Politik entstanden? Die grösste, Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre entstandene Linkspartei Lateinamerikas konnte, nach mehreren vergeblichen Versuchen, bei den Wahlen von 2003 ihren historischen Parteiführer Inácio Lula da Silva als Präsident durchsetzen. Im Zweikammer-Kongress (Parlament und Senat) hatte sie allerdings allein keine Mehrheit und ging Koalitionen ein, die sich bis 2014 immer weiter nach rechts verschoben und schließlich völlig prinzipienlos wurden.
Die Reformpolitik der ersten beiden Regierungen Lulas brachte der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung auf vielen Gebieten zunächst wichtige Verbesserungen und Errungenschaften. In vielen Kommunen und in einigen Bundesländern wurde mit Beteiligungshaushalten die ”Art der PT zu regieren” eingeführt. Außenpolitisch orientierten die PT-geführten Regierungen selbstbewusst auf die lateinamerikanische Integration (v.a. Mercosur) und auf enge Beziehungen zu den BRIC-Staaten (Brasilien, Indien, Russland, China, aber auch Südafrika) und gingen auf deutliche Distanz zum US-Imperialismus. Brasilien wurde zu einem wichtigen progressiven internationalen Faktor. Nach den maximal zulässigen zwei Amtszeiten galt Lula als der populärste Präsident Brasiliens.
Aber das zunehmende Hineinwachsen der Partei in den Staatsapparat, mangelnde eigene Mehrheiten im Kongress, Bürokratisierung, politische Anpassung bis hin zu ausgesprochenem Verrat an programmatischen Grundlagen führten dazu, dass die PT sich in ihrer Mehrheit immer weiter von ihren ursprünglichen Zielen entfernte, was von Parteiausschlüssen und Abspaltungen begleitet wurde. Die Reform des politischen Systems und der demokratische Sozialismus waren bald nur noch blasse Erinnerungen an vergangene Zeiten. Schlimmer noch: Viele führende Vertreter der Partei, die Glaubwürdigkeit dadurch errungen hatte, dass sie anders war als alle anderen, erfrischend mobilisierte und die politischen Prioritäten zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung umkehren wollte, übernahmen altbekannte und verbreitete Methoden der brasilianischen Politik: Stimmenkauf, Vetternwirtschaft, politischer Kuhhandel und Korruption. Etliche wurden dafür in den letzten Jahren verurteilt, sitzen Haftstrafen ab, gegen manche laufen noch Verfahren, in denen sie – wie der frühere Finanzminister Palocci Lula – Dilma und die PT anschwärzen, um Strafminderung zu erhalten.
Am Ende waren die politischen Folgen verheerend. Die PT hatte sich zunehmend entwaffnet gegenüber den vielen unberechtigten – aber leider auch oft berechtigten – Anschuldigungen ihrer Gegner und bürgerlichen Verbündeten im Regierungslager, die selbst bis zum Hals im Sumpf der Korruption steckten. Vor dem Hintergrund von Massenkundgebungen gegen die PT, die nun von der politischen Rechten und den Massenmedien als Wurzel allen Übels hingestellt wurde, einer immer wuchtigeren Wirtschaftsrezession und einer bereits länger anhaltenden, nachhaltigen Schwächung der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen folgte schliesslich das dubiose Impeachment von 2015 gegen Präsidentin Rousseff – massgeblich mitinitiiert von ihren bürgerlichen ”Bündnispartnern”.
Das war nur ein vorläufiger Höhepunkt im Niedergang der PT und ihres politischen Einflusses. Maßgebende Kreise im bürgerlichen und grossbürgerlichen Lager sahen jetzt ihre Chance gekommen und nutzten die veränderten Kräfteverhältnisse, die PT-geführte Regierung, die ihnen mit der Stärkung der Binnennachfrage, massiven Staatsaufträgen und außenwirtschaftlicher Offensive zehn Jahre lang einen relativen sozialen Frieden und profitable ”goldene Zeiten” beschert hatten (wie Lula selbst nicht müde wird zu betonen) zu stürzen. Sie kündigten den ungeliebten klassenversöhnlerischen Kompromiss (”du gibst mir, ich gebe dir”) des ”Lula-Petismus” auf und strebten ein radikales Rollback an. Die Wahlen von 2014 hatten zwar Dilma Rousseff – massiv gestuetzt von Lula – die Wiederwahl als weibliche Präsidentin des Landes gebracht, aber die politischen Kräfteverhältnisse im Kongress, in den Bundesstaaten bis hin auf die kommunale Ebene hatte sich bereits nachhaltig nach rechts verschoben.
Die PT-Mehrheit hat lange die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Angesichts der breiten Ablehnerfront in der brasilianischen Gesellschaft setzte sie verzweifelt auf die Popularität Lulas und wollte mit ihm erneut die Präsidentschaftswahl gewinnen. Sie stellte sich nicht ernsthaft die Frage, wie und mit welchen Mehrheiten sie denn diesmal regieren wolle, wenn Lula tatsächlich noch einmal gewinnen würde. Lulas Verurteilung, seine Verurteilung zu über 12 Jahren Haft und das höchstrichterliche Kandidaturverbot waren der berühmte Strich durch die Rechnung.
Der Ersatzkandidat F. Haddad und das Kampagnenmotto ”Lula ist Haddad, Haddad ist Lula” schien zunächst erfolgversprechend. In Wahrheit sind beide Persönlichkeiten sehr verschieden. Lula ist ausgebildeter Dreher, war ein äußerst populärer Gewerkschaftsaktivist im Industriezentrum Sao Paulo, maßgeblicher Mitbegründer des Gewerkschaftsverbands CUT im Jahr 1983, charismatisch, beredt und beweglich wie ein Fisch im Wasser, beliebt vor allem bei den ärmeren Volksmassen, für die er einer von ihnen war. Haddad, ein gutausgebildeter Akademiker, hat nicht im entferntesten das Charisma und die Durchsetzungsfähigkeit Lulas und war über den Großraum Sao Paulo hinaus nur wenig bekannt, weshalb man ihn im Kampagnenmaterial immer zusammen mit Lula abbildete.
Das rechte Lager versuchte, auch das gegen ihn zu wenden, indem es ihn als bloßen ”Besenstiel” Lulas angriff. Immerhin war Haddad von Korruptionsskandalen und -verdächtigungen frei, die Lula zunehmend auf die Füße gefallen waren, insbesondere im Zusammenhang mit den Machenschaften um den staatlichen Ölkonzern Petrobras und umfangreichen öffentlichen Aufträgen an Baukonzerne wie Odebrecht. Im Wahlkampf, vor allem in der Stichwahlrunde, trat Haddad aber als durchaus eigenständiger, programmfester linksliberaler Kandidat auf, gegen den sich Bolsonaro auf keine Fernsehdiskussion einließ. Dennoch – die PT hat offensichtlich die Gefahr, die aus der massiven Anti-PT-Stimmung (in allen Umfragen vor den Wahlen gab es eine klare Mehrheit der PT-Ablehner) und der Kandidatur Bolsonaros erwuchs, unterschätzt.
Sie war auch – außer gelegentlichen Lippenbekenntnissen – nicht bereit, selbstkritisch ihre Fehler und die negativen Seiten ihrer Regierungspolitik aufzuarbeiten. Bereits in der ersten Runde wurde die Partei auf Länderebene und im Kongress ziemlich abgestraft. Das mediale Sperrfeuer, die laufenden Korruptionsverfahren, in denen PT-Vertreter neben zahlreichen Unternehmern und bürgerlichen Politikern angeklagt oder verurteilt waren sowie die mangelnde Selbstkritik führten schließlich dazu, dass vor allem im wohlhabenderen, dichtbesiedelten und industriereichen Süden und Südosten des Landes sich eine regelrechte Anti-PT-Stimmung ausbreitete. Darauf konnte das Lager um Bolsonaro setzen.
Es konnte des weiteren auf den sich abzeichnenden wahlpolitischen Zusammenbruch des bürgerlichen Mitte-Rechts-Spektrums setzen, insbesondere der PSDB und der MDB, die noch tiefer als die PT im Korruptionssumpf steckten (gegen mehr als 300 Abgeordnete im alten Kongress liefen bzw. laufen Ermittlungen oder Strafverfahren) und deren Regierung Temer mit ihren antisozialen Maßnahmen vollständig diskreditiert war. Bolsonaro konnte darauf setzen, dass die Parteien der bürgerlichen Mitte (PSDB, MDB) in der Stichwahl nicht für Haddad aufrufen würden, um eine katastrophale Rechtsverschiebung zu verhindern. Sie hatten ja den Putsch gegen Dilma Rousseff mitinitiiert, das Abbauprogramm der Regierung Temer mitgetragen und würden den Weg – selbst um den Preis der absehbar schweren eigenen Wahlniederlage – bis zu Ende mitgehen.
Als die Bolsonaristen in der ersten Runde massiv auftrumpfen konnten und der frühere Fallschirmjägerhauptmann mit 47 Prozent (gegen knapp 30 Prozent für Haddad) als klarer Favorit in die Stichwahl um die Präsidentschaft ging, waren die Würfel im Grunde schon gefallen. In einem historischen Kraftakt schafften Haddad, die PT und der überwiegende Teile der brasilianischen Linken immerhin noch gut 45 Prozent – gegenüber 56 Prozent für Bolsonaro (s. Einzelheiten in SoZ 10 /18 und 12/18). Der Sieg des Bolsonarismus war schliesslich das Endergebnis aller Fehler und Niederlagen der Linken Brasiliens (1).
Der Bolsonarismus – Programm, Widersprüche und mögliche Perspektiven
Bisher scheint es so, als würde sich der Bolsonarismus als radikalisierte, tropische Variante des Trumpismus etablieren. Es droht eine umfassende ”neoliberale Konterrevolution”, die weit über die Roll-Back-Programme der traditionellen Eliteparteien Brasiliens hinausgeht und die sich sowohl auf überkommene, antidemokratische Tendenzen in der brasilianischen Politik und Gesellschaft und auf neuere ”amerikanistische Phänomene” stützt – wie den inzwischen großen Einfluss der evangelikal-fundamentalistischen Pfingstkirchen oder die übernommene Massenbeinflussung über die sog. sozialen Medien (2). Sie droht einherzugehen mit Kriminalisierung und Repression von sozialen und Protestbewegungen, der politischen Linken und einer aufmüpfigen Arbeiterbewegung, sollten die sich wieder fangen und sich gegen die weitreichenden Abbruchprogramme zur Wehr setzen. Bolsonaro im Wahlkampf: ”Diese Roten sind Banditen in unserem Vaterland. Es wird eine Säuberung geben, wie sie die Geschichte noch nie gesehen hat."
Es droht eine Politik, die die seit dem Ende der Militärdiktatur noch nicht fest verankerten demokratischen Rechte und Freiheiten und Institutionen des Landes missachtet. Bolsonaros Sohn Eduardo, Abgeordneter aus Rio und auch ein giftiger Linken- und Armenhasser, sieht etwa kein Problem darin, 100.000 Landlose einzusperren, da es sich um ”Terroristen” handele, oder das Oberste Bundesgericht (STF) vom Militär verhaften zu lassen. Mit seinem Bruder war er in Israel und hat sich vor Ort erkundigt, wie mit widerspenstigen Palästinensern verfahren wird.
Das Kabinett Bolsonaros, so stellt Guilherme Boulos, Präsidentschaftskandidat der links von der PT angesiedelten PSOL zu Recht fest, ist eine reine ”Horroshow” (3). Aktive oder pensionierte Vertreter des rechten Flügels von Militär und Polizei werden eine wichtige Rolle spielen, insbesondere beim Thema ”innere Sicherheit”. Ungezügelter Wirtschaftsliberalismus, weitere Privatisierungen strategischer Unternehmen und einschneidender Sozialabbau sind angekündigt. So verwundert es nicht, dass Bolsonaro der ”Wunschkandidat der Märkte” war (so u.a. der Deutschen Bank und des IWF) (4). Das Wirtschaftsprogramm des Bolsonarismus ist das Programm der Konzerne und Finanzwelt, für deren Interessen er alle zivilgesellschaftlichen Hindernisse aus dem Weg räumen will. Die Frage ist hier lediglich, ob sich Bolsonaro mit den nationalistisch eingestellten Militärs in seinen Reihen bzw. den ihn unterstützenden Parteien verständigen kann (oder überwerfen wird), die den ”Kernbestand” der staatlichen Konzerne behalten wollen, und vor allem, ob er die zu erwartenden gesellschaftlichen Widerstände in Schach halten kann.
Außenwirtschaftlich will er die Beziehungen zu den USA wieder vertiefen und einen Rückzug aus dem Mercorsur einleiten, in den immerhin 25 Prozent der brasilianischen Industrieexporte gehen. Religiöse Fundamentalisten aus den Reihen der Evangelikalen werden damit betraut, ”Marxismus” und ”zügellose Sexuallehre” im Bildungswesen auszumerzen, linksorientierte Lehrkräfte zu denunzieren und im Kulturleben die verbreiteten linksemanzipativen Einflüsse auszutrocknen. Der bereits erwähnte willfährige Justizminister wird seinen einseitigen Kampf gegen Korruption nun auf höchster Ebene fortsetzen. Kostproben hat er schon geliefert: So nahm er den korrupten neuen Präsidialamtsleiter Lorenzoni in Schutz, da dieser ja ”bereut” habe. Auch andere, bekanntermaßen korrupte Figuren in der neuen Regierung – wie die Umweltministerin, eine Lobbyisten für die Großagrarier – dürften von ihm kaum etwas zu befürchten haben. Die sozialpolitischen Rückschläge werden enorm werden und vor allem die schwarze, arme Bevölkerung, große Teile der Jugend, aber auch die Rentner treffen. Das Rentenalter soll heraufgesetzt und die Rente – nach dem Modell der chilenischen Militärdiktaur – über private Fonds organisiert werden. Das Arbeitsrecht soll weiter drastisch verschlechtert werden, nachdem die Regierung Temer bereits damit begonnen hatte. Kuba zieht – nach unflätigen Angriffen Bolsonaros über Twitter - über 8000 Ärzte zurück, die im Rahmen von Regierungsvereinbarungen zu Zeiten von Dilma Rousseff nach Brasilien geschickt wurden, um vor allem in armen und ländlichen Gebieten Millionen Patienten zu behandeln, weil brasilianische Ärzte nur unzureichend vorhanden oder nicht bereit sind, auf's Land zu gehen. Das wird ausgeprochene Notstände hervorrufen.
Aussenpolitisch wollen sich die Bolsonaristen eng an Trump anlehnen, was dieser mit großer Freude registriert hat. Der außenpolitische Trump-Berater Bolton sieht in Bolsonaro einen ”neuen Verbündeten gegen die Troika der Tyrannei Kuba, Nicaragua und Venezuela” (5). Was hier zu erwarten steht, offenbart sich in dem designierten Außenminister, ein mediokrer fundamentalistisch-katholischer Diplomat und Linkenfresser, der Trump als eine Art neuen Messias vergöttert, der die westlichen Werte retten wird … Vielleicht macht ihnen aber das mögliche Scheitern des Trumpismus in den USA auch einen dicken Strich durch die Rechnung…
Der Bolsonarismus hat sich also sehr viel vorgenommen. Vor allem innenpolitisch sind seine Vorhaben äußerst unpopulär, bieten regelrechten sozialen Sprengstoff. Manches – wie die Bekämpfung der sexuellen und ethnischen Minderheiten, das Rollback bei den Quotenregelungen an den Universitäten, der erweiterte Schusswaffeneinsatz der Polizei, die Herabsetzung der Strafmündigkeit usw. dürfte angesichts der extrem konservativen Mehrheit des Kongresses, vor allem der Abgeordnetenkammer, noch leicht durchzubringen sein. Aber größere Sozialproteste, z.B. gegen harte soziale Einschnitte, dürften vielleicht zur Vorsicht anregen.
Die Partei Bolsonaros, die PSL, stellt zwar (nach der PT) mit 52 Sitzen die zweitstärkste Fraktion, aber sie muss sich die Mehrheiten unter den insgesamt 513 Abgeordneten und 30 Fraktionen suchen. Immerhin wird der reaktionärste Anteil im Kongress auf über 300 Abgeordnete geschätzt. Aber um einen verlässlichen Regierungsblock zusammenzuzimmern, ist nun genau das gleiche Spiel zu erwarten, wie es bisher bereits unter anderen Konstellationen (inclusive PT-geführten Regierungen) Praxis war: Abgeordnetenkauf und politischer Kuhhandel. Damit könnten die ersten Wahlkampfblasen Bolsonaros schon platzen. Sollte dieser zunächst parlamentarisch organisierte Kurs der neoliberalen Konterrevolution scheitern, stellt sich die Frage, ob Bolsonaro einen inneren Putsch à la Fujimori in Peru organisieren wird (oder kann), den er erklärtermassen bewundert. Das aber wäre ohne die Komplizenschaft der bestimmenden Militärkreise nicht möglich, die bisher auf die ”politische Neutralität der Truppe” bedacht sind. Mit Bolsonaro, so der scheidende Chef des Heeres, Villas Boas, kehre nicht das Militär an die Macht zurueck. Es bestehe aber die Gefahr einer Politisierung der Kasernen (6). Eine andere Möglichkeit wäre, dass Bolsonaro nach der Durchsetzung einer reaktionären Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung angesichts anhaltender und destablisierender Sozialproteste von den herrschenden Eliten entsorgt wird, weil diese ihre langfristigen Interessen gefährdet sehen.
Konsequenzen ziehen
Nun läuft die Debatte in der PT und der brasilianischen Linken über die Ursachen der schweren Niederlage, die ein völlig anderes und sehr gefährliches Kapitel in der politischen Geschichte des Landes eröffnet hat. Hätte man sich nicht sehr viel früher selbstkritisch mit den strategischen Fehlern der PT-geführten Regierungen befassen müssen, mit ihren ständigen Kompromisslereien mit bürgerlichen Kräften, ihrem auf die Dauer illusionären Konsens mit den ”Eliten”, ihrem Verzicht auf harte antikapitalistische Maßnahmen (Zerschlagung der Medienmonopole, systematische Stärkung der Gewerkschafts- und Belegschaftsrechte, umfassende Landreform usw.) und ihrem dadurch bedingten Versagen gegenüber der Korruption und Gewaltkriminalität? War es noch richtig, sich so stark auf die Persönlichkeit Lulas zu konzentrieren, hätte man nicht frühzeitig jemand anderen als Präsidentschaftskandidat aufbauen müssen?
Es wird auch darüber debattiert, welchen Charakter das künftige Regime Bolsonaro hat: Handelt es sich um eine rechtsautoritäre Variante, wie es bereits mehrere in Lateinamerika gab, oder schon um eine Vorstufe zum einem Faschismus eigener Art angesichts des bisherigen Äußerungen und Vorhaben des neuen Präsidenten, der mit grundlegenden Rechten und Freiheiten nichts am Hut hat? Wie muss sich die Linke jetzt reorganisieren und politisch aufstellen, um die angesagten radikalisierten Angriffe auf demokratische Verfassungspositionen, die sozialpolitischen Errungenschaften aus der Zeit der PT-geführten Regierungen, auf Emanzipations- und soziale Bewegungen, auf die Rechte der Ureinwohner und auf die Umwelt abzuwehren? Welche internationalen Bündnisse sind jetzt nötig, um den Kampf gegen den globalen Vormarsch der politischen Rechten gemeinsam zu führen?
Derzeit ist noch offen, welche Ergebnisse die Aufarbeitung der schweren Niederlage bringen wird. Der kommende Parteikongress der PT wird darüber schon Aufschluss geben. Haddad plant für Anfang 2019 eine Reihe von Gesprächen mit ”Mitte-Links”-Kräften in Amerika und Europa. Namentlich erwähnt wurden Bernie Sanders, die portugiesische, spanische, deutsche und französische Linke sowie der Koordinationsansatz des früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis (DiEM). Die internationale Linke täte gut daran, die brasilianische Erfahrung zu studieren, die richtigen Lehren daraus zu ziehen und sich in diese Bewegung einzubringen.
Quellen:
Jorge Martins, Politikwissenschaftler, Coimbra, aktiv im Bloco da Esquerda: Presidenciais no Brasil (2. turno): a democracia no ”bolso” da extrema direita. Portugiesische Erstveröffentlichung auf der Internetseite des Linksblocks – esquerda.net am 1.11.18. In erheblichen Teilen seines Artikels folge ich seiner Argumentation. Zustimmen kann ich auch der prägnanten Erstanalyse von Dieter Boris (”Dämmerung in Brasilien”), Sozialwissenschaftler und Lateinamerikaexperte in der jW v. 31.10.18
- So der Chef des Heeres, General Eduardo Villa Boas, in einem Interview mit der Zeitung Folha de S. Paulo vom 11.11.18
- Juarez Guimaraez, Politikwissenschaftler an der Universität von Minas Gerais, in einem Debattenbeitrag für die brasilianische Internetzeitung Carta Maior vom 17.10.18
- a.a.O.
- Frankfurter Rundschau vom 30.10.18
- Debattenbeitrag auf esquerda.net
- Guardian v. 1.11.18
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