von Serdar Kazak
Das Sotschi-Abkommen zwischen Putin und Erdogan über Idlib ist bekannt: In der Stadt am Schwarzen Meer einigten sich der russische und der türkische Staatspräsident am 17.September darauf, bis zum 15.Oktober rund um die letzte Rebellenhochburg Idlib eine entmilitarisierte Zone zu schaffen und Idlib nicht zu bombardieren. Fast alle Kommentatoren haben die «hart verhandelte, friedliche Lösung» begrüßt. Wie hart man verhandelt hat, wissen wir nicht. Wie friedlich es werden wird, werden wir in Zukunft sehen. Kurz zusammengefasst sieht das Abkommen vor, dass ein entmilitarisierter Landstreifen von 15 bis 20 Kilometer Breite entlang der Frontlinie eingerichtet wird. Schwere Waffen werden daraus abgezogen, die oppositionellen Kämpfer ziehen sich hinter diesen Streifen zurück und das Gebiet wird von türkischen Soldaten und der russischen Militärpolizei bewacht.
Neben der Überwachung der demilitarisierten Zone wurde die türkische Seite auch mit der Entwaffnung von oppositionellen Islamisten beauftragt. Laut Medienberichten hat ein großer Teil der oppositionellen Kämpfer in den ersten Tagen ihre schweren Geschütze und Panzer hinter der Pufferzone in Stellung gebracht. Das sind die Gruppen, die der Türkei nahe stehen. Aber HTS (Hayat Tahrir al-Sham) zum Beispiel, eine der größten und radikalsten Gruppen, hat schon erklärt, dass das Abkommen zwischen der Türkei und Russland für sie kein Wert hat.
Wie weit die Türkei die kämpfenden, meist islamistischen Kämpfer zähmen kann, werden wir bald sehen. Die Frist für die Umsetzung ist zwar auf den 15.Oktober 2018 angesetzt, aber die russische Seite hat schon erklärt, dass es auf ein paar Tage nicht ankommt. Das zeigt schon, dass sie Verständnis dafür hat, wenn es ein paar Tage länger dauert.
Für das Abkommen haben beide Seiten Zugeständnisse gemacht. Die russisch-syrische Seite hat einen Militärschlag aufgeschoben. Auf der türkischen Seite war das Opfer aber eindeutig größer. Die türkeinahen Islamisten waren nämlich die treuesten Vertreter Erdogans in diesem Stellvertreterkrieg.
In der letzten Zeit liefen die Eroberungen von vielen größeren Ortschaften durch syrische und russische Streitkräfte nach einem ähnlichen Muster ab: Ein bestimmtes Gebiet wurde demilitarisiert, die «gemäßigten» Kämpfer konnten sich in eine sichere Entfernung zurückziehen, die nicht gemäßigten wurden bombardiert, am Ende wurde die jeweilige Ortschaft eingenommen. Idlib unterscheidet sich von diesem Muster nur an einem Punkt: Die islamistischen Kämpfer haben jetzt kein Rückzuggebiet mehr auf syrischem Boden. Im Angriffsfall müssen sie sich entweder in die Türkei zurückziehen oder bis zum bitteren Ende kämpfen.
Wenn wir die Sache allein aus der türkischen Perspektive betrachten, sehen wir, dass das Abkommen das Ergebnis einer Reihe diplomatischer Pannen war. Angefangen hat es mit dem absolut hohlen neoosmanischen Traum. Belanglose Ansprüche auf ehemalige osmanische Gebiete wurden offen geltend gemacht.
Der Abschuss eines russischen Militärflugzeugs auf syrischem Hoheitsgebiet war ein qualitativer Sprung. Selbst Erdogan hat das offen verteidigt. «Geschieht das nochmal, schießen wir nochmal ab», hat er wörtlich gesagt, erst ein paar Monate später hat er sich dafür entschuldigt. Die Serie der Pannen setzte sich wegen der immer tiefer werdenden Zusammenarbeit der USA mit der YPG fort. Eine Organisation und Volksgruppe, die die Türkei am liebsten vernichtet hätte, wurde de facto ein Bündnispartner der USA. Der fast persönliche Konflikt zwischen Trump und Erdogan hat das auf die Spitze getrieben.
Die US-Regierung hätte die Türkei an ihrer Seite halten können. Das hat sie aber nicht getan. Genau umgekehrt, die USA haben als Verbündete lieber die YPG bevorzugt als die türkische Armee. Die Türkei wurde buchstäblich abgestoßen. Es scheint so, als ob die Türkei für die USA momentan als Gegner nützlicher sei denn als Verbündeter. Und die Türkei wird nicht gefragt. Dabei riskieren die USA kaum etwas.
Langfristig kann die Türkei nicht wirklich ein ernsthafter Gegner für die USA werden. Russland werden die ökonomischen Bedürfnisse der Türkei einfach zu teuer. Dieses Land steckt wegen den Sanktionen selber in finanziellen Schwierigkeiten. Zusätzlich dazu die türkische Wirtschaft am Leben zu erhalten, ist für Russland unmöglich. Die russische Regierung kann kurzfristige Verträge der Zusammenarbeit unterschreiben, und das ist es auch, was sie gerade tut.Erdogan bleibt dabei die große Entscheidungsfreiheit zwischen Pest und Cholera. Er muss entweder aufhören, mit der YPG zu kämpfen, oder jedes Abkommen mit Russland um jeden Preis akzeptieren, um freie Hand gegen die YPG zu haben.
Wenn wir die Medaille umdrehen und das gleiche Bild aus der russischen Perspektive betrachten, sehen wir, dass die Lage gar nicht so einfach ist. Die Wirtschaft des Landes ist wegen der Sanktionen der westlichen Länder in einem ruinösen Zustand. Experten warten nicht mehr darauf ob, sondern wann der Rubel in großem Stil fällt. Eine Hyperinflation ist sehr wahrscheinlich.
Die NATO manövriert in Osteuropa mit enormem Aufgebot vor der russischen Nase. Ein verlustreicher Häuserkampf gegen verwirrte Islamisten ist das letzte, was Putin und Assad sich wünschen. Und die westlichen Mächte haben begeistert erklärt, in Syrien militärisch zu intervenieren, sollten Assads Truppen Chemiewaffen einsetzen.
In solch einer Situation haben gute Beziehungen zur Türkei einen sehr großen Wert. Die Beteiligung der Türkei an der Idlib-Operation macht es für die NATO fast unmöglich, sich hier militärisch zu engagieren. Auch wenn das Land momentan das schwarze Schaf im Bündnis ist, ist es immerhin NATO-Mitglied und besitzt offiziell keine Chemiewaffen.
Mittlerweile ist es eine klare Sache, daß die USA Erdogan und seine AKP vor 16 Jahren an die Macht geholfen haben. Anfang der 2000er Jahre wurde eine ziemlich präzise Krise inszeniert, das Land mit normalen Mitteln unregierbar gemacht – dann kam die neoliberale AKP als Retterin der Nation auf die politische Bühne. Ob die USA damals damit gerechnet haben, dass ausgerechnet dieser Kerl, den sie an die Macht katapultiert haben, eines Tages über die Interessen Russlands in Syrien wachen wird?
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