Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2018

Die soziale Ungleichheit ist extrem gestiegen
von Shir Hever

Die soziale Ungleichheit in Israel ist groß und vielfältig. 2017 berichtete die OECD, dass der sog. Gini-Koeffizient dort bei 0,346 lag und damit zu den höchsten in der Welt zählte. Im Vergleich dazu lag er in Deutschland bei 0,293. Der Gini-Koeffizient misst die Ungleichheit der Einkommen und kann zwischen 0 (vollständige Gleichheit) und 1 liegen (wenn das Einkommen sich auf nur eine Person konzentriert und alle anderen nichts haben). Das Problem mit dem Gini-Koeffizienten besteht allerdings darin, dass die Daten über Kapitaleinkommen unzuverlässig sind und dass Ungleichheit unter den Reichen selbst aus gesellschaftlicher Sicht kaum von Interesse ist.
Ein besserer Maßstab ist die Armut. Die OECD-Definition von Armut (ein Einkommen, das unter der Hälfte des Durchschnittseinkommens liegt) misst de facto die Ungleichheit hinsichtlich der Armen. Danach hat Israel mit 0,177 (2017) die zweithöchste Armutsrate unter den OECD-Ländern und liegt hinter den USA. Die Armutsrate für Deutschland liegt bei 0,101. Diese Zahlen beziehen sich auf Einkommen nach Steuern und Transferzahlungen, also nachdem die jeweiligen Sozialsysteme die Armutsverhältnisse verringert haben.
Ungleichheit und Armut sind in Israel in hohem Maß von Nationalität, Religion und Alter beeinflusst. Nach Erhebungen der Israelischen Nationalen Versicherungsagentur lag die Armutsrate bei den ultraorthodoxen Juden bei 45,1 Prozent, bei den arabischen Israelis bei 49,2 Prozent – das ist mehr als doppelt so viel wie im Durchschnitt der Bevölkerung. Schon 2012 erklärte Premierminister Netanyahu: «Wenn Sie die Araber und Ultraorthodoxen aus den Ungleichheits-Indizes abziehen, stehen wir sehr gut da.»

Die Mizrahim: ethnische Dis­kriminierung von Juden
Schon in frühen Jahren war der Zionismus bestrebt, eine siedlerkoloniale Gesellschaft in Palästina zu schaffen, die zionistischen Juden aus Europa wollten die örtliche palästinensische Bevölkerung von Anfang an wegschaffen. Dagegen wurden Juden aus den arabischen und muslimischen Ländern, die Mizrahim, eingeladen, Zionisten zu werden und nach Palästina einzuwandern. Die israelische Regierung betrachtete sie als Ersatz-Arbeiterklasse in den Betrieben und in der Landwirtschaft, anstelle der Palästinenser.
Die Diskriminierung der Mizrahim wurde schon 1948 betrieben und sie hält bis heute an, was Bildung, Einkommen und Zugang zu einflussreichen und prestigeträchtigen Positionen betrifft. In den letzten Jahren ist der Einfluss von Mizrahim-Politikern zwar erheblich gestiegen, aber die sozioökonomischen Abgründe sind weit davon entfernt sich zu schließen. Mizrahi-Minister wie Moshe Kakhlon und Miri Regev konzentrieren ihre Bemühungen auf die jüdisch-arabische Spaltung. Anstatt gegen die Diskriminierung der Mizrahim zu protestieren, schlagen sie sich auf die Seite der mächtigen Ashkenazi-Eliten und verlangen ihren Anteil aus der Diskriminierung der Palästinenser.

Ungleichheit in Israel stärker gestiegen
Die Form des Wohlfahrtsstaats, die ab 1948 in Israel aufgebaut wurde, hat zwar die Menschenrechte und politischen Rechte für einen Teil seiner Bevölkerung erheblich eingeschränkt, was aber die wirtschaftliche Gleichheit betraf, war die Sozialgesetzgebung auch für israelische Palästinenser damals relativ gut. Es handelte sich um eines der stärksten Wohlfahrtssysteme im Westen.¹ Obwohl es Palästinensern bis 1959 verboten war, im Gewerkschaftsverband Histadrut Mitglied zu werden, war die Ungleichheit der Einkommen in Israel bis 1966 niedriger als in den meisten europäischen Ländern.²
Das Sozialsystem wurde in Israel ab 1985 durch den sog. Stabilisierungsplan weitgehend abgebaut. Der Plan sollte damals die hohe Inflation und die grassierende Wirtschaftskrise beenden. Der Aufstieg des Neoliberalismus, die Privatisierung und die tiefen Einschnitte bei den Sozialleistungen führten ab den 70er Jahren zu einer bis heute anhaltenden und schnell steigenden Ungleichheit. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Staat Israel nicht von den meisten Ländern der Welt, denn die Jahre seit Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien sowie der Einfluss von Weltbank und Weltwährungsfonds haben zu einem globalen Anstieg der Ungleichheit geführt.
Die Daten zeigen aber auch, dass die Ungleichheit in Israel schneller gestiegen ist als in anderen westlichen Ländern. Israel hat sich von einem der wirtschaftlich ausgeglichensten Länder ins glatte Gegenteil verwandelt.
Der Grund dafür liegt im Kolonialcharakter der israelischen Gesellschaft. Der Aufstieg des Neoliberalismus ist überall auf der Welt auf den Widerstand von Gewerkschaften, religiösen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen gestoßen, die sich für eine solidarische Politik eingesetzt haben. In der hochgradig hierarchischen israelischen Gesellschaft wird Solidarität zwischen Palästinensern und Juden als «politisch» angesehen und beschränkt sich auf der politischen Landkarte auf eine kleine Minderheit in der linken Ecke.
Die Regierung hat schnell entdeckt, dass die Stichwörter «Sicherheitsgefahr» und «notwendige Verteidigungsausgaben» ganz leicht dazu benutzt werden können, Demonstrationen zu unterbinden und die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Der israelische Sozialwissenschaftler Shlomo Swirski hat das so ausgedrückt: Die Besatzung hat Israel in einen Sicherheitsstaat verwandelt, in dem soziale Gerechtigkeit immer nachrangig ist und in dem der Verlust von gesellschaftlicher Solidarität einer der größten Kostenfaktoren ist, den die israelische Gesellschaft für die Besatzung zahlt.

Das komplette Bild
Der Beitritt Israels zur OECD im Jahr 2010 hat bei den Statistikern eine Menge Verwirrung ausgelöst. Die von der OECD gesammelten Daten basieren auf den Berichten der Mitgliedsländer. Doch Israel berichtet nur von seinen 8,5 Millionen Bürgern, obwohl es ein Gebiet beherrscht, in dem fast 13 Millionen Menschen leben, und unterschlägt die Existenz der 4,5 Millionen Palästinenser, die unter israelischer militärischer Besatzung leben. Im Ergebnis ließ sich die OECD darauf ein, falsche Daten über Israel zu veröffentlichen, versehen mit einer Fußnote, dass sie nicht beabsichtige, Daten über die besetzten Gebiete aufzunehmen, gleichwohl aber Daten aus den illegalen israelischen Kolonien im Westjordanland und auf den Golan-Höhen.
Die Palästinenser, die unter israelischer militärischer Besatzung leben, sind gezwungen, israelische Währung zu verwenden, Steuern an Israel zu zahlen, sie unterliegen den israelischen Zollgesetzen und israelischen Militärgerichten. Ihnen ist es grundsätzlich nicht erlaubt, mit Ländern Handel zu treiben, mit denen Israel keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Und dennoch beziehen sich alle oben angegebenen Informationen über Ungleichheit und Armut allein auf zwei Drittel der Bevölkerung Israel/Palästinas. Nach den israelischen Statistikorganisationen existieren 4,5 Millionen Palästinenser ganz einfach nicht.
Wenn wir die Wirtschaft Palästinas insgesamt in den Blick nehmen – es handelt sich in der Tat um eine wirtschaftliche Einheit – dann wird offensichtlich, dass die soziale Ungleichheit in dieser wirtschaftlichen Einheit extrem hoch ist, vielleicht die höchste in der Welt, obwohl bisher keine saubere statistische Analyse versucht worden ist. Zwischen den Flüchtlingslagern im Gaza-Streifen, wo 60 Prozent Erwerbslosigkeit herrscht, und den Wolkenkratzern im Norden von Tel Aviv ist Israel/Palästina ein Land, in dem sich extreme politische Ungleichheit in extreme wirtschaftliche Ungleichheit übersetzt.
Die aggressive antipalästinensische Politik von Donald Trump hat eine lebhafte Debatte ausgelöst, wie angesichts der Unhaltbarkeit der israelischen Besatzung eine künftige politische Lösung für Israel/Palästina aussehen könnte. Eine wachsende Zahl von Palästinensern und Israelis unterstützt das Modell eines gemeinsamen demokratischen Staates mit gleichen Rechten für alle und einem Wirtschaftssystem ohne Grenzen. Wenn ein solcher Staat einmal gebildet wird, dann wird er vor der Herausforderung stehen, die massive wirtschaftliche Ungleichheit zu überwinden. Die Erfahrungen mit Südafrika nach dem Sturz der Apartheid haben gezeigt, dass politische Gerechtigkeit ohne sozialökonomische Gerechtigkeit nicht ausreicht.

¹Mindestlohn, Wohngeld, Arbeitsbedingungen usw. waren auch für israelische Palästinenser relativ gut, obwohl sie bis 1966 unter Militärgesetzen leben mussten. Die Diskriminierung war stark im Bildungswesen, bei Behörden, Gerichten usw. Damals wie heute dürfen Palästinenser keine Immobilien erwerben, die dem Jüdischen Nationalfonds gehören.
²In den besetzten Gebieten dürfen Palästinenser nicht in der Histadrut, aber in der PGFTU – dem palästinensischen Gewerkschaftsbund – Mitglied werden. Sie dürfen sich überhaupt nicht gewerkschaftlich organisieren, wenn sie in israelischen Industriezonen des Westjordanlands arbeiten.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.