Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2018

von Paul B. Kleiser

Am 11.Dezember 2018 wäre Solschenizyn hundert Jahre alt geworden. Zweifellos zählt er zu den bedeutendsten russischen/sowjetischen Autor*innen des 20.Jahrhunderts, auch wenn er nach den großen Erfolgen seiner Bücher, vor allem von Archipel Gulag (1974), und der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an ihn 1970, heute etwas in Vergessenheit geraten ist.

Der Zerfall der Sowjetunion, das Ende des „Realsozialismus“ und die Transformation Russlands in eine autoritäre „Marktwirtschaft“ unter Jelzin und Putin, der eine ideologische Symbiose mit der orthodoxen Kirche eingegangen ist, haben bewirkt, dass Solschenizyn heute ziemlich aus der Zeit gefallen scheint. Seine millionenfache Rezeption hing aufs engste mit dem Kalten Krieg zusammen. Und für viele Intellektuelle der „neuen Linken“, der Maoisten zumal, wurden seine Bücher zum Anstoß, auf „Antitotalitarismus“ zu setzen und immer rechtere Positionen zu entwickeln.

Solschenizyn war ein Opfer des Stalinismus in doppeltem Sinne: Einerseits brachte ihn seine Kritik an Stalin für Jahre ins Lager und in die Verbannung, andererseits wurde er zu einem Vertreter der nationalistischen Ideologie vom christlichen heiligen „Mütterchen Russland“. Fast alle seine Bücher behandeln direkt oder indirekt die Welt der Straf- und Vernichtungslager der stalinistischen Epoche. Außerdem sammelte er Tausende von Begriffen der russischen Sprache, die nicht in Wladimir Dahls „Wörterbuch des lebenden Russisch“ verzeichnet waren.

Ein Leben in Lagern

Solschenizyn hatte gerade ein Mathematikstudium begonnen, als der Zweite Weltkrieg „ausbrach“. Er wurde Soldat und dann Offizier, war an der großen Schlacht bei Kursk beteiligt und kommandierte schließlich eine Batterieeinheit in der Weichsel-Oder-Operation, die zur Besetzung von Ostpreußen führte. In den letzten Kriegsmonaten wurde er schließlich verhaftet und in Moskau in der Lubjanka eingekerkert, weil er in einem Brief an einen Freund Lenin gegen Stalin verteidigt hatte. Nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches der UdSSR („antisowjetische Hetze“) wurde er zu acht Jahren verurteilt und in ein Straflager geschickt, in dem er u.a. auch Lew Kopelew traf.

Nach Stalins Tod 1953 deportierte man ihn nach Kasachstan. Im dortigen Lager erlebte er den täglichen Kampf mit unerfüllbaren Arbeitsnormen, zu geringen Essensrationen und dem vielfältigen Tod. Erst nach dem XX. Parteitag, auf dem Nikita Chruschtschow seine geheime Rede über „Stalins Verbrechen“ hielt, wurde er freigelassen.

Bekannt wurde Solschenizyn durch den Roman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, der in der relativ liberalen Zeit unter Chruschtschow zunächst in der Zeitschrift Novy Mir (1962) erschien und – wenn auch in vorsichtiger Form – das Thema der Konzentrationslager in der UdSSR behandelte. Seine Wirkung war wegen dieses Tabuthemas, über das man höchstens hinter vorgehaltener Hand im engsten Freundeskreis sprach, ungeheuer. Nach dem Sturz von Chruschtschow 1964 wurde der Roman dann auch wieder verboten.

Bis zum Erscheinen von Archipel Gulag wurde Solschenizyn immer mehr zur Stimme der von einem totalitären System Erniedrigten und Gequälten, sowie deren Familien und Freunden; seine Bücher ließen weder Opfer noch Henker los.

Im nächsten Roman, Krebsstation, beschäftigte er sich mit seiner Krebserkrankung, die er in einem längeren Kampf überwinden konnte, und dem drohenden Tod; es ist trotz der tödlichen Bedrohung eigentlich ein recht optimistisches Buch. Darauf folgte 1968 Im ersten Kreis der Hölle, in dem Solschenizyn seine eigenen Erfahrungen im Lager mit täglichen Demütigungen, ebenso sinnlosen wie brutalen Folterungen und dem großen Sterben verarbeitete.

Exil im Westen

Nach der Veröffentlichung von Archipel Gulag 1974 (das Manuskript war in den Westen geschmuggelt worden und kursierte in der Sowjetunion nur als Samizdat-Literatur) wurde Solschenizyn umgehend nach Deutschland abgeschoben. Dort führte er nicht nur seine kritische Arbeit über das Sowjetsystem fort, sondern entwickelte sich mehr und mehr zu einem Reaktionär, der auch die Fundamente des Westens, also die Renaissance und die Aufklärung, bekämpfte. Hier zeigt seine Argumentation große Ähnlichkeit mit den katholischen Kritikern der Französischen Revolution, de Maistre und de Bonald. Sie kritisierten die Revolution als Dekadenz, weil sie das Zentrum der Welt, nämlich die göttliche Ordnung, zerstört habe.

Solschenizyn tat dies zu einem Zeitpunkt, als die katholische Kirche dieses Denken auf dem II.Vatikanischen Konzil gerade abgelegt hatte und sich mit der Moderne zu versöhnen trachtete. Im Juni 1978 hielt er in Harvard (mittlerweile war er in die USA umgesiedelt) eine Rede, in der er sich auf Dostojewski bezog und die Werte der Aufklärung und der Moderne ablehnte, ja verurteilte. Der Westen sei „geistiger Mittelmäßigkeit“ und dem „materialistischen Irrtum“ verfallen; die „Biologie lehrt uns, dass ein Übermaß an Komfort nicht gut für den Organismus ist“.

Bereits Archipel Gulag steckt voller Widersprüche. Der Autor möchte – da die Revolution ja Teufelswerk war – beweisen, dass es zwischen der Revolutionszeit und der stalinistischen Epoche kaum Unterschiede gegeben habe. Er schildert den Fall eines Kriegsdienstverweigerers aus Gewissengründen, der im September 1919, also noch im Bürgerkrieg, vor Gericht gestellt wurde, weil er den Dienst an der Waffe ablehnte. Wiewohl Verteidiger und Ankläger auf Freispruch plädieren, wird der Mann zum Tode verurteilt. (Das wäre damals auch in den westlichen Ländern passiert!) Doch die Wachen beschließen, einen Protestbrief gegen das Urteil nach Moskau zu schreiben. Daraufhin wird das Urteil in strenge Isolationshaft umgewandelt.

Man kann sich leicht denken, was mit dem Angeklagten… und den Wächtern in der Stalinzeit passiert wäre! Doch Solschenizyn schlussfolgert: „Welch ein Mangel an Ordnung, Disziplin und Bewußtsein sich da offenbart. (…) Die Soldaten mischen sich mit ihren Resolutionen in etwas ein, was sie gar nichts angeht!“

Die Juden

Das vom Bolschewismus, der genau genommen von außen, aus dem Westen gekommen sei, gemarterte russische Volk sei eigentlich „Gottesträger“ und könne nur Kraft gewinnen, wenn es zu seinen wesentlichen, slawischen und orthodoxen Wurzeln zurückkehre. Heute ist dies die Botschaft des Ideologen der russischen extremen Rechten, Alexander Dugin. In seinen letzten Werken, vor allem in den beiden Bänden "Zweihundert Jahre zusammen", führte Solschenizyn seine nationalistischen Theorien weiter, und wie Fjodor M. Dostojewski, aber auch dessen anarchistischer Garant Pierre-Joseph Proudhon, nahm er eine antisemitische Wendung.

Im russischen Reich gab es seiner Meinung nach zwei radikal unterschiedliche Ethnien, nämlich die „Russen“ (hier sieht man den großrussischen Chauvinismus) und die Juden. Von den zahlreichen anderen Völkerschaften ist nur an wenigen Stellen die Rede. Den Juden war es vor 1918 untersagt, außerhalb des Rayons (bestehend aus Polen, Weißrussland, dem Baltikum und die Ukraine), also in den eigentlich „russischen Gebieten“ zu siedeln. Ein Jude könne eben niemals Russe werden, sondern bleibe immer Jude, daher sei dieser Ausschluss gerechtfertigt gewesen. Sonst hätten die Juden die Russen „vergiftet“, denn im Rayon hätten sie die Tavernen besessen und damit(!) den Alkoholismus verbreitet. Auch an den Pogromen seien die Juden gewissermaßen selbst schuld gewesen, weil sie der einheimischen bäuerlichen Bevölkerung ihr „drückendes Joch“ auferlegt hätten. Und natürlich seien die Juden großteils am „Desaster von 1917“ (also der Oktoberrevolution) schuld gewesen, u.a. weil sie einen erheblichen Anteil der bolschewistischen Führung gestellt hätten. Diese Logik kommt der Ideologie der Nazis von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ schon ziemlich nahe.

Der zweite Band des Buches beschäftigt sich mit den Juden seit der Oktoberrevolution. Es führt eine Liste aller Verbrechen von Juden und der Tscheka, der Ende 1917 zur Bekämpfung der Konterrevolution gegründeten Geheimpolizei an. Solschenizyn schreibt, man könne nicht leugnen, dass zahlreiche Juden an der schlimmen sowjetischen Geschichte des russischen Volkes beteiligt gewesen seien. Natürlich vergisst er hinzuzufügen, dass fast alle großen Sowjetführer jüdischer Herkunft (z.B. Bucharin, Joffe, Kamenew, Radek, Sinowjew und Trotzki) von Stalin umgebracht oder in den Tod getrieben worden sind; das würde nicht zu seiner Ideologie passen. Auch die Behauptung, in den Straflagern sei es Juden, waren sie einmal unter die Räder gekommen, besser ergangen, ist blanker Hohn. Jedenfalls seien die Juden ein Fremdkörper in der russischen Gesellschaft gewesen, der den westlichen Materialismus importiert und die Revolution wesentlich organisiert habe. Nur durch Rückkehr Russlands „zu seinen Wurzeln“ könne es genesen.

Bei aller schriftstellerischen Größe haben wir es mit einem Menschen und seiner panslawistischen Ideologie zu tun, der sein Verständnis von Russentum und Orthodoxie dazu benutzt hat, einen antiwestlichen, antidemokratischen und antisemitischen Diskurs zu führen – genau wie es heute die Putin’sche Rechte tut. Wir werden sehen, ob in den Artikeln zum 100.Geburtstag diese mehr als dunkle Seite von Solschenizyn auch gewürdigt oder wieder einmal „vergessen“ wird.

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