von Reiner Tosstorff
Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution. Berlin: Dietz, 2018. 24,90 Euro
Ralf Hoffrogge zeichnet in seinem neuen Buch das Leben eines der zentralen Akteure der Rätebewegung, Richard Müller, nach.
Richard Müller (1880–1943) war als Initiator der Revolutionären Obleute ab 1914 eine der wichtigsten Triebkräfte des Widerstands gegen den Ersten Weltkrieg. Zu diesem Kreis schlossen sich betriebliche Vertrauensleute der Metallarbeitergewerkschaft zunächst in Berlin, dann auch mit Ablegern in ganz Deutschland zusammen.
Als konspirativ arbeitende Kraft in den Fabriken und Werkstätten standen die Obleute lange im Schatten der politischen Akteure. Doch aus ihnen erwuchsen die Kräfte, die mehrmals in den Jahren ab 1916 durch Streiks die Kriegsmaschinerie zum Halt zu bringen versuchten. Lange blieb das erfolglos, bis die betriebliche Bewegung mit dem Aufstand der Matrosen im November 1918 zusammenfließen konnte.
Die Revolutionären Obleute gehörten zu den wichtigsten Stützen der neuen Arbeiterräte und Müller war ihr Wortführer als Vorsitzender des Vollzugsausschusses der Berliner Arbeiterräte – damit für einige Monate auch so etwas wie das deutsche Staatsoberhaupt.
In den Auseinandersetzungen um die zukünftige Funktion der Räte – sei es auf dem Rätekongress im Dezember 1918, bei dem die SPD die sofortige Wahl einer Nationalversammlung durchsetzen konnte, sei es im Rahmen der USPD oder des Deutschen Metallarbeiterverbands – entwickelte Müller an prominenter Stelle zusammen mit anderen die Konzeption eines «reinen Rätesystems», auf dem die deutsche sozialistische Republik beruhen sollte.
Nachdem sich die USPD über die Frage des Verhältnisses zu der bis dahin nicht besonders einflussreichen Kommunistischen Partei gespalten hatte, wurde er Ende 1920 bei letzterer Mitglied, geriet aber in deren Fraktionskämpfen bald ins Abseits, nicht zuletzt aufgrund seiner an betrieblicher und gewerkschaftlicher Arbeit ausgerichteten Vorstellungen. Im Jahre 1924 wurde er nach einigem Hin und Her darüber ausgeschlossen.
Dabei wurde ihm auch der Vorwurf gemacht, ein Privatvorhaben zu verfolgen, nämlich die Abfassung einer Geschichte des Widerstands gegen den Weltkrieg und dann der Revolution samt ihrer Niederschlagung aus der Perspektive der Rätebewegung. Dieses Werk erschien 1924/25 in drei Teilen und wurde in der 68er Bewegung wiederentdeckt. Auch jüngst ist es noch einmal vom Verlag Die Buchmacherei wiederaufgelegt worden und bleibt weiterhin eine sehr empfehlenswerte umfangreiche Geschichte dieser Zeit.
Müllers Leben verlor sich nach diesen Veröffentlichungen in widersprüchlichen Spuren. Er scheint sich sehr bald von der Arbeiterbewegung in eine private Existenz geflüchtet zu haben, angeblich war er sogar in dubiose Vermietungsaktivitäten verwickelt, und scheint 1943 unter unbekannten Umständen gestorben zu sein.
So war er lange der gänzlich Unbekannte, von dessen Wirken in Revolution und Nachkriegskrise man zwar wusste, aber über dessen Leben fast nichts bekannt war. Hoffrogge gelingt es zum erstenmal, seinen Lebensweg halbwegs genau zu rekonstruieren. Die erste Auflage dieser Biografie erschien im Jahre 2008. Nun, zum 100. Jahrestag der Revolution, erscheint sie in korrigierter und erweiterter Neuauflage. Von besonderer Bedeutung ist dabei ein Dokumentenhang, in dem anhand von Materialien aus dem Moskauer Archiv der Kommunistischen Internationale sein Ausschluss aus der Partei anschaulich gemacht wird. Dieser hatte für die KPD in der damaligen Situation zweifellos nur noch eine Randbedeutung. Doch die sich darin ausdrückende bürokratische Vorgehensweise zeigt schon an, warum die Partei dann angesichts der großen politischen Herausforderungen in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 mit der Massenarbeitslosigkeit und dem Aufstieg der Nazis nicht mehr wirklich reagieren konnte.
In Müllers Lebensweg drücken sich nicht nur die Höhen, sondern auch die Tiefen der deutschen Arbeiterbewegung nach der Niederlage der deutschen Revolution anschaulich aus. Als Schlussfolgerung kann man dazu nur die Worte Klaus Gietingers aus seinem neuen Buch zitieren (siehe die Besprechung in SoZ 11/2018): «Die revolutionären Arbeitermassen wünschten eine neue Form von Demokratie, die nicht bloß parlamentarisch sein sollte, sondern auch den Kapitalismus und Militarismus abschaffen sollte, ‹eine Demokratie ganz neuen Typs›. Ob dies neben oder mit einer Nationalversammlung möglich war, bleibt offen. Aber es war eine ungenutzte Chance. Hätte die Novemberrevolution wenigstens in Teilen gesiegt, es hätte vermutlich keinen Hitler und vermutlich auch keinen Stalin gegeben. Und Hunderte Millionen Menschen hätten länger und gut gelebt. Eine Basisdemokratie, wie von den Räten gelebt, bleibt auch 100 Jahre später eine konkrete Utopie, die es, bei Strafe des Untergangs, global zu erfüllen gilt.»
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