Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2018
Tipps für den Gabentisch und das geruhsame Schmökern im Lehnstuhl
von Petra Hartlieb

Auf der Leipziger Buchmesse gibt es seit mehreren Jahren eine Veranstaltung, die nennt sich «Ladies Night». Hier werden unter dem Überbegriff «Frauen» vier Lesungen in einen Abend gepackt, dessen Bücher nichts, aber wirklich nichts Gemeinsames haben, außer dass sie nicht von Männern geschrieben wurden.
Stellen wir uns mal vor, man würde fünf namhafte, durchgesetzte Autoren gemeinsam auf die Bühne setzen, den Abend «Boys Night» nennen, und dann dürfte jeder der Herren, dessen kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass sie einen – na, wir wissen schon – haben, ein wenig aus ihrem Werk lesen. Daniel Kehlmann, Arno Geiger, Benjamin von Stuckrad-Barre, Martin Walker. Glaubt wirklich jemand, die Herren würden kommen? Wir werden es nie erfahren, denn niemals würde ein Veranstalter auf so eine schwachsinnige Idee kommen.
Vor ein paar Wochen saß ich in einer Jury für einen Kurzgeschichtenwettbewerb und der Juror neben mir erdreistete sich, eine Geschichte als «Frauengeschichte» zu bezeichnen, nur weil die beiden Protagonistinnen keine Männer waren. Dass die Erzählungen vorher mit männlichem Personal bestückt ist und niemand auf die Idee kommt, das als Männerliteratur zu bezeichnen, ist ihm nicht aufgefallen.

Was ist das bloß, diese Unterscheidung zwischen Frauen- und Männerliteratur? Warum hat man das Gefühl, dass sich hier so gar nichts weiterentwickelt, ja, eigentlich fast wieder schlimmer wird, als es schon war?
Denn nennen wir es doch beim Namen: Wenn Frauen Romane schreiben, ist es oft Frauenliteratur, die man am liebsten in eigens dafür geschaffene Ecken packt, die nur Frauen betreten, als müsste man Männer davor beschützen, irrtümlich zur Literatur von Frauen zu greifen, zu den Geschichten und den Gedanken von Frauen, die sie ja gar nicht zu interessieren brauchen. Warum ist das so? Wir alle kennen Männer, haben sie als Freunde und Partner, die sich, genau wie wir, Gedanken machen über das, was unser Leben ausmacht: Liebe, Partnerschaft, der Balanceakt zwischen Kindern und Karriere, Eifersucht, Verlustängste. Da gibt es doch keine Unterschiede!
Warum aber suggeriert man lesenden Männern, dass Romane, die von Frauen geschrieben wurden, und in denen es um genau diese Themen geht, nichts für Männer sind? Schreiben männliche Autoren über Familie, Beziehungen und große Gefühle, dann sind dies meistens wichtige Gesellschaftsromane, denken wir nur an Jonathan Franzens Korrekturen oder an Jeffrey Eugenides Middlesex. Wenn Männer Romane schreiben, ist das keine Männerliteratur, sondern: Literatur, die für alle von Bedeutung ist. Diese Bedeutung wünsche ich mir auch für die Bücher von Frauen. Wenn Frauen schreiben, dann werden sie oft von Verlagen mit Covern ausgestattet, nach denen kein Mann je greifen würde, und als Buchhändlerin bin ich oft versucht, von diesen Büchern die Schutzumschläge einfach abzumachen und sie in neutrales, weißes Packpapier zu wickeln.
Ich wünsche mir ein Ende dieser Ungerechtigkeit. Ich wünsche mir, dass die Literatur von Frauen gleich viel Wert hat wie die von Männern und dasselbe Ansehen genießt: Es gibt nur eine Literatur!

Und deswegen gibt es diesmal zwei Buchtipps, von Frauen geschrieben und, ja, Frauen sind die Hauptfiguren. Und ich hoffe, dass diese Bücher auch von Männern gelesen werden, ja, gerade von Männern, denn es gibt keine sogenannten Frauenthemen! Wenn wir irgendwann eine Gleichberechtigung erreichen wollen, dann ist nicht nur die Politik wichtig, nein, es muss sich auch in den Geschichten, die wir erzählen, niederschlagen.

Lucy Fricke: Töchter. Reinbek: Rowohlt, 2018. 240 S., 20 Euro
Lange habe ich das Buch durchgeblättert auf der Suche nach Sätzen, die ich zitieren könnte. Es ist sinnlos, denn ich würde hier ein Drittel des Buches abschreiben und das wäre dumm, man soll es ja lesen. Vielleicht lasse ich mir einen Wandbehang besticken, mit einem Satz aus Lucy Frickes Buch Töchter, so ein schönes weißes Tuch mit blauem Kreuzstich. Bei meiner Oma standen erbauliche Sprüche drauf, ich würde dann einen Satz wählen wie: Wir mussten Kinder gewesen sein, als wir noch glaubten, ein Longdrink Glas in unseren Händen würde uns durch die Nacht helfen oder Schön war ich immer nur in der Vergangenheit.
Martha und Betty sind vierzig, schon immer beste Freundinnen und somit ist klar, dass Betty nicht kneift, als Martha sie anruft und bittet, sie und ihren Vater auf eine Reise in die Schweiz zu begleiten. Eine ganz besondere Reise, denn Marthas Vater Kurt hat sich sein Lebtag nicht um seine Tochter gekümmert, aber jetzt ist er alt, todkrank und allein, und wünscht sich eine letzte Reise mit seiner Tochter. Allerdings keine Vergnügungsreise, er hat einen Termin in einer Sterbeklinik in der Schweiz und seine Tochter soll ihn auf diesem letzten Weg begleiten, ob sie will oder nicht. Sie will eigentlich nicht, doch andererseits ist es ein letzter Versuch, Nähe zwischen ihr und dem stets abwesenden Vater herzustellen, also sagt sie zu. Aber nur, wenn Betty mitkommt.
Die allerdings hat auch ein Vaterproblem: Ihre Mutter setzte ihr mehrere Lebensabschnittspartner vor die Nase und einen davon hatte sie wirklich geliebt: Ernesto, einen Posaune spielenden Italiener, der sich leider aus dem Staub gemacht hat, als sie zehn war. Sie hat ihn nie vergessen.
Die zwei Frauen packen den alten, sterbenden Kurt auf den Rücksitz seines alten VW-Golfs und machen sich auf in Richtung Schweiz, doch er überlegt es sich anders und will auf halber Strecke lieber an den Lago Maggiore zu einer verflossenen Geliebten. Also Planänderung – Italien. Betty setzt Martha und Kurt in einer verfallenen Pension ab und fährt in ein kleines italienisches Kaff, in dem sich angeblich Ernestos Grab befindet.
Und wie das Ganze dann mit allen Beteiligten auf einer kleinen griechischen Insel in der Wirtschaftskrise endet, das muss man selber lesen.
Lucy Fricke hat mit Töchter einen Ton gefunden, den man nur bewundern kann: Themen, die geradezu prädestiniert wären, in einem Schmalztopf der Gefühle zu ertrinken:
1) Zwei Frauen, die nicht mehr jung und sexy sind, aber auch nicht die lustigen Witwen in den Wechseljahren, die es noch einmal wissen wollen. 2) Sterben. 3) Unerfüllte Lieben. 4) Unerfüllter Kinderwunsch. 5) Abwesende Väter und 6) lebenslange Sehnsucht nach einer heilen Familie.
Das sind die Leitmotive, und trotzdem ist dieses Buch an keiner Stelle wehleidig, psychologisierend, esoterisch oder banal. Es ist lustig! Klug und pointiert und lustig und Martha und Betty sind Frauen, die ich kenne. Ganz sicher! Sie sind meine Freundinnen, sie sind echte Menschen, sie reden so, sie denken so, sie leben so.
Sie rauchen, sie trinken, sie basteln an ihren Lebensentwürfen, als wären sie Ende Zwanzig und wirken doch niemals peinlich jugendlich. Und sind auch nicht kleine, schwache Frauen, die ihre Falten betrachten und ihren Hormonstatuts ängstlich beobachten, denn mit vierzig könnte man ja annehmen: Besser wird es nicht mehr. Martha und Betty machen einfach ihr Ding, so wie man es mit zwanzig gemacht hat, oder mit dreißig. Und eben mit vierzig auch und vermutlich noch mit fünfzig oder sechzig. Irgendwie weiterwursteln und ein bisschen nachdenken, aber nicht zu viel. Miteinander reden, füreinander da sein, rauchen, Gin Tonic trinken und … ach, ich weiß auch nicht. Ich liebe dieses Buch!

Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip. Köln: Dumont, 2018. 496 S., 24 Euro
Von einer amerikanischen Autorin ist der nächste Buchtipp. Die steht weit über diesem Schielen auf die Männer als Leser, dazu ist sie zu erfolgreich und erfahren. Sie lässt sich auf keine Mogelpackung ein, die das Ziel haben könnte, mehr männliche Leser anzusprechen, und nennt ihr Buch einfach nach dem, was es ist. Das weibliche Prinzip ist der perfekte Titel für einen Roman, der nichts weniger ist als eine Geschichte des Feminismus, erzählt anhand zweier Figuren.
Greer Kadetzky ist ehrgeizig, doch da ihre Eltern chaotisch und wenig ambitioniert sind, verhindern sie mehr oder weniger unabsichtlich Greers Studium an einer Eliteuniversität. Ihre Zukunftsaussichten sehen nicht rosig aus, dazu kommt noch, dass ihr Freund Cory in Princeton aufgenommen wurde, sie also eine Fernbeziehung führen müssen. Und das, obwohl sie seit vielen Jahren ein Paar sind und immer schon wussten, dass sie heiraten werden.
An ihrer kleinen, unbedeutenden Uni besucht Greer einen Vortrag der berühmten, nicht mehr jungen Frauenrechtlerin und Herausgeberin einer feministischen Zeitung, Faith Frank, und ist begeistert von der charismatischen Frau. Zufällig treffen die beiden auf der Toilette aufeinander und Greer überwindet ihre Schüchternheit und spricht die Ältere an. Durch diese Begegnung ändert sich Greers Leben. Sie, die nie im Sinn hatte, reich zu werden, sondern immer etwas Sinnvolles tun wollte, findet endlich den Zweck ihres Daseins und beginnt nach dem Ende ihres Studiums bei Faith zu arbeiten. Nach einem euphorischen Anfang droht sie jedoch bald an den eigenen und Faiths Machtansprüchen zu scheitern.
Meg Wolitzer handelt natürlich hier nicht nur persönliche Schicksale ab, es geht auch darum, wie man sich selbst betrügt, in die Hände eines brutalen Kapitalismus begibt – oder begeben muss –, schachert und mauschelt, um für die gute Tat oder das vermeintlich Höhere zu handeln. Wie auch immer wieder humanistische und hohe Ziele dem Geld und der Macht geopfert werden.
Ein Buch, das Konflikte und Zwischenmenschliches präzise schildert, und dabei mit seinen Figuren behutsam, ja fast zärtlich umgeht. Ein Buch, das menschliche Regungen, Gefühle und Bedürfnisse ausleuchtet. Enttäuschungen, Verrat, Intrigen, Missbrauch und Tod werden in all ihren Konsequenzen feinfühlig beschrieben.
Ein Buch, das einen nicht kalt lassen kann und das alle lesen sollten.

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