Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2018

Weitreichende Rechtswende bestätigt
von Hermann Dierkes

Seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 und der Verabschiedung einer demokratischen Verfassung 1988 wurde in der Stichwahl am 28. Oktober mit Jair Bolsonaro zum ersten Mal wieder ein ausgesprochen faschistoider Kandidat zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Er wird, zusammen mit der von ihm zu bildenden Regierung, zum 1. Januar sein Amt antreten.
Der pensionierte Fallschirmjägerhauptmann war des öfteren durch drastische Bekenntnisse zu Militärdikatur, politischem Mord, Folter, Armen-, Frauen- und Schwulenfeindlichkeit aufgefallen. Doch erst seit dem Niedergang der letzten PT-geführten Koalitionsregierung unter Dilma Rousseff und ihrer dubiosen Absetzung durch eine rechte Kongressmehrheit 2015 sah er seine Chance gekommen – und die bürgerliche und extreme Rechte des Landes mit ihm. Die Ergebnisse der beiden Wahlrunden bestätigen das Ende eines Zyklus, der über mehrere Jahrzehnte von einer klaren Linksverschiebung im politischen Kräftefeld gekennzeichnet war. Auch die Ergebnisse der gleichzeitig stattgefundenen Kongress-, Länderparlaments- und Gouverneurswahlen bringen diese tiefgreifende Rechtsverschiebung zum Ausdruck.

Das Kabinett und seine Vorhaben
Die laufende Regierungsbildung läuft ziemlich chaotisch ab, lässt aber Schlimmes befürchten: Präsidialamtschef soll Onyx Lorenzoni von der Partei DEM werden, einer konservativen und wirtschaftsliberalen Partei, die 2007 aus der liberalen PFL hervorgegangen ist; er hat 2014 nachweislich vom Fleischkonzern JBS illegale Wahlkampfspenden eingesetzt. Sérgio Moro, Richter erster Instanz, der mit allen, auch völlig rechtswidrigen Mitteln eine erneute Kandidatur Lulas verhindert hat, wird mit dem Justizministerium belohnt. Seinem Ministerium sollen auch Bundespolizei und Rechnungshof zugeschlagen werden.
Für innere Sicherheit soll der als Hardliner bekannte Reservegeneral und gewählte Vizepräsident Hamilton Mourão von der kleinen Rechtspartei PRTB zuständig werden. An der Spitze eines riesigen Wirtschafts- und Finanzministeriums wird der ultraliberale Wirtschaftsguru Paulo Güdes (ein sog. Chicago-Boy) stehen. Gegen Güdes läuft ein Verfahren wegen Betrugs und umfangreicher Wirtschaftskriminalität. Etliche Ministerien wie das Arbeitsministerium, Städtebau und Kultur sollen ganz verschwinden bzw. in Superministerien eingegliedert werden – so wird das Umweltministerium Teil des Agrarministeriums.
Die ersten wirtschafts-, innen- und sozialpolitischen Vorhaben sowie die angekündigte Wiederannäherung an den US-Imperialismus bzw. an Trump lassen Schlimmes befürchten. Bis Jahresende droht der Ausverkauf der riesigen Tiefseeölreserven (Pre-Sal). Das Rentensystem soll nach dem Modell der chilenischen Pinochet-Diktatur umgebaut, privatisiert und finanzmarktabhängig werden. Es droht der Austritt Brasiliens aus dem Pariser Klimaabkommen und aus der lateinamerikanischen Wirtschaftsintegration.
Im Bildungswesen droht die Front der Evangelikalen im Kongress mit der «Beseitigung marxistischer Inhalte». Die internationale Finanz- und Spekulationswelt klatscht sich auf die Schenkel. Bezeichnend die Stellungnahme der Deutschen Bank: «Bolsonaro ist der Wunschkandidat der Märkte.» Der IWF begrüsst die angekündigten Vorhaben der Bolsonaristen als «Schritte in die richtige Richtung». Na denn!

Regionale und soziale Spaltungen
Fernando Haddad, der Kandidat der PT und Gegenspieler von Bolsonaro, ist ein Linksdemokrat, der eine erfolgreiche Bilanz als Bildungsminister aufzuweisen hat (Öffnung und Ausbau des Bildungssystems bis hin zu den Unis, insbesondere für bisher Marginalisierte) sowie eine durchwachsene Bilanz als Oberbürgermeister von São Paulo.
Wahlanalysen besagen, dass Haddad das gesamte Linksspektrum und große Teile der linken Mitte mobilisieren konnte, was aber zusammen nur 42,5 Prozent der Wählerschaft ausmachte. Die übrigen Anteile kamen aus der Mitte, von der gemässigten Rechten und aus dem Bereich der Stimmenthaltungen aus der ersten Runde, v.a. in São Paulo. Letzteres blieb aber insgesamt ohne Bedeutung, da die große Masse der Nichtwähler aus der ersten Runde auch diesmal nicht wählen ging. 21,2 Prozent – gewaltige 30,1 Millionen – Wähler enthielten sich der Stimme. Unausgefüllte (2,2 Prozent) und ungültige Stimmzettel (7,4 Prozent) summierten sich auf weitere 8,3 Millionen verlorene Stimmen.
Bolsonaro zog über 50 Prozent des Potenzials der bürgerlichen PSDB an sich, 70 Prozent des Potenzials der rechtsliberalen, mit der Industrie- und Finanzwelt verbundenen Partei Novo, 40 Prozent des Potenzials der politisch gespaltenen MDB (früher PMDB, die den derzeitigen Präsidenten Temer stellt) sowie große Teile der Wählerschaft kleinerer rechter Parteien.
Der große Unterschied zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten hat auch eine geografische und soziologische Dimension. Es gab eine klare Spaltung zwischen dem «schwarzen» Nordosten Brasiliens und dem Großteil vom Rest des Landes. Mit Werten von 60 bis 77 Prozent lag Haddad in den dortigen neun Bundesstaaten vorn. Im mittleren Westen, im Südosten und im Süden holte Bolsonaro Ergebnisse zwischen 58,2 und 76 Prozent. Bei den Auslandsbrasilianern kam Bolsonaro auf 71 Prozent der Stimmen.
Der regionalen Spaltung unterliegt eine soziale. Beim Nordosten handelt es sich um das brasilianische «Armenhaus» – immer noch ein Erbe von Kolonialismus und Sklaverei – mit weitgehend schwarzer Bevölkerung. Hier haben die Ärmsten durch die sozialpolitischen Massnahmen der PT-geführten Regierungen Verbesserungen erlebt, insbesondere durch die Programme gegen den Hunger (Fome Zero) und das Schulkindergeld (Bolsa Família). In ganz Brasilien scheint das auch für diejenigen zu gelten, denen die PT-Regierungen durch Quotenregelungen u.a. einen Zugang zu Bildung, Ausbildung und Universität geöffnet haben. Im Norden, etwa im Bundesstaat Amazonas oder in Amapá, hat Haddad im ländlichen Bereich mehr Stimmen geholt als in den Städten. Das ist offenbar typisch für periphere Gebiete, die immer noch vom Großgrundbesitz beherrscht werden.
In Amazonas gewann Bolsonaro die Hauptstadt Manaus, wo sich die Masse der Wählerschaft befindet. Vor allem aber gewann er deutlich in Großstädten wie São Paulo, Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Porto Alegre oder in der Bundeshauptstadt Brasília.

Geschlecht und Religion
Nach Untersuchungen des Forschungsinstituts DataFolha hat Bolsonaro mit 56 Prozent die klare Mehrheit der männlichen Wähler erhalten, Haddad nur 37 Prozent. Die Wählerinnen verteilen sich auf beide Kandidaten gleich, 44 zu 44 Prozent. Aus der LGBT-Gemeinde haben 61 Prozent Haddad gewählt, nur 31 Prozent Bolsonaro und 8 Prozent keinen von beiden.
Die Mestizenbevölkerung (Mischlinge aus Ureinwohnern und Europäern), die ungefähr die Hälfte der Wählerschaft ausmacht, verteilte sich im Verhältnis 45 zu 45 Prozent auf beide Kandidaten. Es war die weiße Bevölkerung, die mit ihrem 40-Prozent-Anteil die Wahlen entschieden hat, insbesondere im Süden und Südosten: 58 Prozent davon wählten Bolsonaro, nur 33 Prozent Haddad.
Die Schwarzen, die nur 8 Prozent der Bevölkerung ausmachen, haben mehrheitlich den Linkskandidaten gewählt (55 zu 35 Prozent). Je heller die Hautfarbe, desto größer die Chance, zu den höheren Einkommensgruppen und den Besitzenden zu gehören. Und die haben überwiegend Bolsonaro gewählt. Im südlichen Santa Catarina, dem «weißesten» und reichsten Bundesstaat Brasiliens, in dem traditionell auch eine starke deutschstämmige Einwanderungsbevölkerung ansässig ist, hat Bolsonaro sein zweitbestes Ergebnis erzielt.
Großen Zuspruch bekam Bolsonaro aus dem Bereich der evangelikalen Religionsgemeinschaften. Diese wachsen seit Jahren sehr stark in Brasilien, das einmal zu 90 Prozent katholisch war, sie machen heute schätzungsweise ein Drittel der Gläubigen aus. Bolsonaro soll sich allein 22 Millionen Stimmen aus diesem Bereich gesichert haben (63 zu 28 Prozent). Führende Vertreter der beiden größten Pfingstkirchen (IURD und Assembleia de Deus) hatten den rechtsextremen Kandidaten offensiv mit ihrer Medienmacht unterstützt, darunter der steinreiche Bischof Edir Macedo (IURD), der Anfang der 90er Jahren wegen Religionsmissbrauch und Scharlatanerie eine Gefängnisstrafe abgesessen hat.
Bolsonaro war schon seit einigen Jahren ihr Mann, weil er sich aggressiv gegen Menschen anderer sexueller Orientierung und gegen das Gleichstellungsgesetz engagiert hatte. Bolsonaro gibt sich zwar immer noch als Katholik aus, hat sich aber von Evangelikalen vor einigen Jahren demonstrativ im Jordan taufen lassen.
Im übrigen konnte er sich auch die überwältigende Mehrheit der jüdischen, muslimischen und sonstigen Religionsgemeinschaften sichern (70 Prozent).
Von den Katholiken, die inzwischen nur noch rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, erhielten beide Kandidaten jeweils etwa 45 Prozent der Stimmen. Unter den Nichtgläubigen erhielt Haddad die Mehrheit mit 51 Prozent.

Klassenspaltung
Am klarsten hat sich das Wahlverhalten nach Gesellschaftsklassen unterschieden: Die Mittelschichten und die Großbourgeoisie stimmten für Bolsonaro, die Unterklassen für Haddad (51 zu 39 Prozent). Je höher man steigt in der Einkommenstatistik, desto deutlicher waren die Erfolge Bolsonaros: 57 Prozent in der unteren, 63 Prozent in der oberen Mittelschicht und noch viel deutlicher bei den Höchsteinkommen und Multimillionären. Diese Abstufung gilt im großen und ganzen auch für den Bildungsgrad.
Die verschiedenen Altersgruppen stimmten alle mehrheitlich für Bolsonaro, bis auf zwei Ausnahmen: Bei den jüngsten Wählerinnen und Wählern (16–24 Jahre) lag Haddad mit bis zu 46 Prozent, in der Altersgruppe von 45 bis 59 Jahren mit 51 Prozent vorn.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der typische Wähler Bolsonaros ist männlich, heterosexuell, weiß, erwachsen oder heranwachsend, evangelikal, mit mittlerer oder höherer Bildung, aus der Mittel- oder Oberschicht und Bewohner einer der drei südlichen Gegenden Brasiliens. Der Wähler Haddads ist weiblich, schwarz oder Mestizin, jung, katholisch oder ohne Religionszugehörigkeit, mit geringer Schulbildung und aus dem Nordosten.
14.11.2018

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