Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2018
Drei Beispiele der Verfremdung
von Kurt Hofmann

Die diesjährige Viennale – das internationale Filmfestival in Wien – wurde erstmals von Eva Sangiorgi verantwortet.
Eine «politische Viennale» sei es geworden, wurde vielfach angemerkt. Das ist zutreffend, doch war das «politisch» im Sinne von Godards Diktum zu verstehen, nicht «politische Filme» zu machen, sondern Filme politisch zu machen.

Alle Macht der Super-8: Dieses Filmformat «für alle» eignete sich ideal für Experimente. Auch die an der Düsseldorfer Kunsthochschule entstandene Künstlergruppe «Anarchistische Gummizelle» (AGZ) benützte es für ihre subversiv-doppelsinnigen Kurzfilme, die in einem Spezialprogramm der Viennale zu sehen waren. Der Großteil von deren Arbeiten entstand in den 80er Jahren. Im verspielt einherkommenden Stil der Filme, deren ironischer Grundton den gesellschaftspolitischen Subtext sichtbar macht, sind auch (damals) aktuelle Tendenzen der internationalen Kunstszene ablesbar.
Ein besonders gelungenes Beispiel dieser aufmüpfigen Shorts scheint Der Pilgerstrom (BRD 1982; 5 Minuten; Regie: Ulli Sappok) zu sein. Ein scheinbar endloser Zug, vorrangig von Küchengeräten (wie etwa einem Sieb oder einer Zitronenpresse) oder vielmehr von allem «what a home makes a home», zieht, wie auf einem Fließband, an den Betrachtern vorbei. Das erzählt eine Geschichte: von jenen, nach 1945 (nur scheinbar) Buße tuenden (die «Pilger»), vom «Wir sind wieder wer!» und vom «Wirtschaftswunder»(wobei man noch mitdenken könnte, dass Ludwig Erhard, «das personifizierte Wirtschaftswunder», vor seinem Erfolg in der BRD einer der ökonomischen Shooting Stars der Nazis war…) – symbolisiert durch den fließbandartigen Vorgang. Ebenso ist der ewiggleiche, starre Ablauf der Szenerie ein Verweis auf den vorläufigen Halt des «Pilgerstroms» im Entstehungsjahr des Films.
Nicht alle in den frühen 80er Jahren sind mit dem Statischen, Satten, schier Unabänderlichen einverstanden, das manifestiert sich – auch – auf der Straße, vor allem aber in der Musik, in der Kunstszene, an den Unis. Filmemacher wie jene der AGZ setzten damals auf das Mittel der Verfremdung und konnten stets auf ihre «Waffe» vertrauen: die Super-8.

Auf wahren Begebenheiten beruht Ang Panahon Ng Halimaw (Season of the Devil, Philippinen 2018), der neue Film von Lav Diaz. Er habe Season of the Devil als «Musical» gedreht, und gesungen werden in diesem Film über die Ära des philippinischen Diktators Marcos nahezu alle Dialoge, häufig enden sie in einem gemeinsamen Chor von Tätern und Opfern und dem geläufigsten Ausdruck von Banalität: «lalalala»… Das passt gut, war doch Ferdinand Marcos nicht nur ein blutiger Unterdrücker, sondern auch ein Schmierenkomödiant, der, als er die Philippinen verlassen musste, noch am Flughafen gemeinsam mit seiner Frau Imelda vor laufenden Kameras «ein kleines Chanson» zum Abschied anstimmte…
Schwarz-Weiß: Das war nicht nur einmal mehr die (stilprägende ) Wahl von Lav Diaz für seinen Dreh, so war auch die Weltsicht eines (US-gestützen) Despoten wie Marcos. Schwarz-Weiß, das hieß: Alle, die Marcos ablehnten, waren Staatsfeinde, Kommunisten etc. Hier setzt Lav Diaz in Seasons of the Devil an: Die Ärztin Lorena zieht in den Dschungel und eröffnet dort eine Armenklinik. Eine Provokation für den «Chairman Narciso», der mit seiner Miliz die Gegend kontrolliert. Also wird Lorena entführt, (von Narciso) vergewaltigt und vor ihrer Ermordung unter Drogen gesetzt. Doch von all dem erfahren die Zuschauer nur aus dem Off. Zu sehen ist stattdessen ein schemenhafter Tanz im Gegenlicht, zu hören ist später ein Duett von Lorena und ihren Folterern, die gemeinsam den «Talampunay Blues» singen, dessen Refrain «Den Schmerz verlieren, den Verstand verlieren!» lautet, denn Talampunays, das sind die giftigen Beeren, deren Saft der Ärztin eingeflößt wird… Verfremdung: das ist das Stilmittel dieses «Musicals», das die Banalität der herrschenden Gewalt, die sich stets auf «höhere Werte» beruft, entlarvt.

Die Entdeckung der diesjährigen Viennale war La Casa Lobo (Chile 2018, Regie: Cristóbal León, Joaquín Cocina): Über die «Colonia Dignidad», eine von deutschen Altnazis gegründete Sekte, die mitten im Chile der Pinochet-Diktatur ein abgeschlossenes Reservat des Gestrigen begründete (und eng mit dem Regime zusammenarbeitete), existieren Dokus wie Spielfilme, doch La Casa Lobo betritt neues Terrain.
Hier der Versuch eines inhaltlichen Einstiegs: Das Mädchen María (schon der Name ist Assoziationsfläche) ist aus der Colonia Dignidad geflohen und verbirgt sich gemeinsam mit zwei (so realen wie imaginierten) Gefährten in einer Waldhütte. Vor der Tür steht der Wolf, der zuvor aus dem Off über die Wonnen der Colonia Dignidad erzählt hat und nun María davon zu überzeugen versucht zurückzukehren, und ihm, ihrem treuen Freund, doch aufzumachen…
Vom Genre her ist La Casa Lobo ein Animationsfilm, gleichzeitig aber auch ein Horrorfilm, der die «German Angst» (das Draußen, der Wolf) bedient, zudem ein ironisches Märchen über die Flucht vor dem autoritären Denken und das Gefangensein in ihm. Und vor allem verliert La Casa Lobo in allen verfremdenden Brechungen nie die Colonia Dignidad und deren (reale) Schrecken aus dem Blick, ohne sich dabei an den Mitteln des Zeigefingerkinos zu orientieren.

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