Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2019
16.–20.Dezember 1918 ­Berlin – Stenografische Berichte. (Hrsg. Dieter Braeg, Ralf Hoffrogge.) Berlin: Die Buchmacherei, 2018. 618 S., 20 Euro
von Reiner Tosstorff

Protokoll des deutschen Rätekongresses

Mitte Dezember 1918, nur sechs Wochen nach dem Sturz des Kaiserreichs und der Proklamation der Republik, trat in Berlin im Abgeordnetenhaus, dem ehemaligen Scheinparlament der preußischen Monarchie, der Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte zusammen. Sein Ergebnis ist bekannt: Aufgrund der SPD-Mehrheit wurden Wahlen zur Nationalversammlung binnen vier Wochen zur Ablösung der Räteherrschaft beschlossen. Doch wäre es falsch, daraus einfach zu folgern, die Delegierten hätten nichts anderes als das direkte und unmittelbare Begräbnis der Revolution im Sinne gehabt.
Das wird deutlich, wenn man sich den Verlauf der Diskussionen auf diesem Kongress genauer anschaut. Sie sind damals in einem kurz darauf veröffentlichten Wortprotokoll dokumentiert worden. Dies wurde im Gefolge der 68er Bewegung angesichts der darin geführten Diskussion um Rätesysteme wiederentdeckt und im Jahre 1975 als fotomechanischer Nachdruck erneut veröffentlicht – damit eben im Originalsatz, der in der altdeutschen, gewöhnungsbedürftigen Frakturschrift erfolgt war.
Die eingeschränkte Lesbarkeit trug sicher nicht zur breiten Lektüre bei. Vor allem aber dürfte es die politische Entwicklung im langsamen Auslaufen der 68er-Bewegung gewesen sein, die die Diskussion um Rätetraditionen nicht beförderte. War doch der Weg durch die (parlamentarischen) Institutionen schon in bester Vorbereitung.
Nun liegt das Buch in einem Neusatz in Antiqua-Schrift vor, so ist es wesentlich lesbarer. Damit kann man nicht nur den Diskussionsverlauf besser nachvollziehen. Es ist auch ergänzt um ein knappes Vorwort durch Ralf Hoffrogge, dessen empfehlenswerte Biografie von Richard Müller – als Vorsitzender des Berliner Arbeiterrats eine Schlüsselfigur der Rätebewegung – in der Dezemberausgabe der SoZ vorgestellt wurde.
Hoffrogge skizziert die wesentlichen Probleme bei der Bewertung des Kongresses jenseits der Grundsatzentscheidung über die Nationalversammlung. Dazu gehörten erstens sein weitgehend improvisierter Charakter, wobei Hoffrogge auch auf die heute vorliegenden, genauen Untersuchungen über seine Zusammensetzung, die Analyse der Delegierten usw. verweist.
Die genauen Wahlvorschriften – etwa zur Bildung der Wahlkörper oder zum Delegiertenschlüssel – änderten sich von Region zu Region. So konnten z.B. in Berlin nur Betriebsangehörige gewählt werden, weswegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht kein Mandat hatten. Das wurde zwar auf dem Kongress in Frage gestellt, konnte jedoch nicht rückgängig gemacht werden. Wäre, wie in anderen Gegenden, ohne solche Beschränkung gewählt worden, hätten sie angesichts ihrer Popularität – auch über die organisatorischen Schranken hinaus – womöglich ohne große Schwierigkeiten ein solches erhalten. In einer sozialdemokratischen Legende wurde dies jedoch später als Nachweis ihrer totalen Isolierung umgedeutet, während die sozialdemokratische Mehrheit sich hier in Wirklichkeit nur hinter formalen Rahmenbedingungen verschanzte.
Andere Punkte, die Hoffrogge anführt und die sich im Protokolltext in allen Einzelheiten nachlesen lassen, betreffen die auf dem Kongress – gegen den Widerstand der sozialdemokratischen Parteiführung – erfolgten Mehrheitsbeschlüsse zur Kontrolle der Armee und zur Sozialisierung der Wirtschaft. Ihre Durchführung wurde verschleppt und sie verschwanden schließlich sang- und klanglos. Sie zeigen aber an, dass auch die meisten Delegierten, die in der Grundsatzentscheidung der SPD-Führung folgten, damit eine ganz andere Politik erwarteten, als sie dann im Jahre 1919 von der SPD in Koalition mit den bürgerlichen Parteien durchgeführt wurde. Ein Potential war also vorhanden, konnte aber mit einer unentschlossenen Politik, wie sie die USPD als linke Opposition auf diesem Kongress anbot, nicht angesprochen und in politische Initiativen verwandelt werden.
Diese Neuausgabe, die begrüßenswerterweise auch die Register des Originals übernommen und angepasst hat, ist ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der sich in jenen Monaten entwickelnden politischen Dynamik. Damit wirft sie ein Licht auf die in der Novemberrevolution angelegten Möglichkeiten, die nicht entwickelt, sondern in einer konterrevolutionären Welle im darauffolgenden Jahr ausgeschaltet wurden. Oder, wie es die SPD im Exil ein Jahr nach Errichtung der Nazi-Diktatur im «Prager Manifest» vom Januar 1934 – wenn auch hinsichtlich ihrer eigenen Rolle leicht verbrämt – verkündete: «Die Sozialdemokratie als einzig intakt gebliebene organisierte Macht übernahm ohne Widerstand die Staatsführung, in die sie sich von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte. Dass sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging.»

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