von Bernard Schmid
Nicht die allerbeste, wohl aber die amüsanteste Erklärung für den Ausbruch und den Fortgang der Proteste, die in Frankreich in den letzten vier Wochen in den gelben Warnwesten ein Symbol fanden, fand der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei La République en marche (LREM) in der Pariser Nationalversammlung. Gilles Le Gendre gab am 17.Dezember 2018 in der Wirtschaftszeitung Les Echos folgende Selbstkritik aus Sicht des Regierungslagers zum besten: «Wir waren zu intelligent. Zu subtil, zu technisch bei unseren Maßnahmen zur Kaufkraft.» Ferner habe man «nicht genug erklärt». Es ist ja hinlänglich bekannt, dass die Bevölkerung zu dumm ist, Wohltaten ohne gute Erklärung zu verstehen, die Fehltritte der Regierung mithin in der (mangelnden) «Pädagogik» zu suchen seien.
Doch die nach wie vor heterogen zusammengesetzte Protestbewegung scheint über diese – und andere – Reaktionen des Regierungslagers eher erzürnt als belustigt. Aufrufe zu einem «Akt Sechs», also einem sechsten protestgefüllten Samstag in Folge seit dem 17.November 2018, machten die Runde in den sozialen Medien. «Opfern wir Weihnachten!» forderten manche.
Der Auslöser
Ende Oktober mobilisierte, zunächst vom Internet und den «sozialen Medien» aus, eine zunächst weitgehend unorganisierte Protestbewegung für Verkehrsblockaden ab dem 17.November. Anlass für den Unmut war die damals angekündigte, inzwischen jedenfalls für 2019 ausgesetzte, Erhöhung der Spritsteuer. Diesel sollte um 6, Benzin um 3 Cent pro Liter teurer werden, und die Treibstoffsteuer sollte bis 2023 schrittweise weiter steigen. Offiziell wurde dies mit dem «ökologischen Umbau», vor allem mit der Förderung der Elektromobilität begründet. Real waren von den erwarteten 4 Milliarden Euro Einnahmen jedoch weniger als eine Milliarde für solche Maßnahmen eingeplant, der Rest schlicht zum Ausgleichen des Staatshaushalts.
Denn die Regierung unter Emmanuel Macron betreibt seit ihrem Antritt im Mai 2017 einen systematischen Abbau der direkten, einkommensprogressiven Steuern und der Sozialabgaben für Unternehmen. Die dadurch verursachten Einkommensausfälle sollen durch eine Anhebung nicht einkommensprogressiver Kopfsteuern – wie der «Allgemeinen Sozialabgabe» CSG, die derzeit rund 9 Prozent des steuerpflichtigen Einkommens ausmacht – und der Verbrauchssteuern kompensiert werden.
Verschiedene Seelen in der Brust
Dagegen richtete sich ein doppelter Protest: Einerseits ein generell steuerfeindlicher Mittelstandsprotest in der Tradition der «Steuerrebellen» unter Pierre Poujade – er erlebte 1956 seinen Höhenflug, ein gewisser Jean-Marie Le Pen zog damals für seine Bewegung in die Nationalversammlung ein. Auf der anderen Seite wies die Bewegung auch eine sozial progressive Komponente auf, die stärker auf höhere Einkommen und mehr Steuergerechtigkeit pochte.
Anfänglich zeigten sich alle Gewerkschaften skeptisch, doch im Laufe der Wochen schlossen sich an der Basis zahlreiche Kreisverbände der CGT dem Protest faktisch an, während ihr Dachverband zu eigenen Protesttagen unabhängig von den «gelben Westen» mobilisierte. Der «Aktionstag» der CGT am 14.Dezember wurde jedoch nur schwach befolgt. Am 8.Dezember rief der linksalternative gewerkschaftliche Zusammenschluss Solidaires erstmals explizit zu Protesten zusammen mit den gelben Westen auf. Gewerkschaftliche und linke Akteure versuchten, die Bewegung vor allem in Richtung Sozialprotest und Steuergerechtigkeitsforderungen zu orientieren und auch ökologische Belange zu berücksichtigen.
Bis zum Schluss wies die Protestbewegung jedoch beide Facetten auf. An militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei sowie an den Ausschreitungen, wie sie vor allem am 1. und 8.Dezember im Zentrum von Paris stattfanden, beteiligten sich sowohl militante Faschisten aus außerparlamentarischen rechtsextremen Gruppen (etwa dem Bastion Social, der die italienische Casa-Pound-Bewegung nachzuahmen versucht), als auch Insurrektionalisten und andere anarchistische Strömungen. Beide arbeiteten keineswegs zusammen, sondern wurden parallel zueinander ohne jegliche Absprache aktiv. Hinzu kamen Gelegenheitsrandalierer und Plünderer – die am 3. und 10.Dezember den Richtern vorgeführten Festgenommenen waren meist sozial prekär lebende junge Männer aus kleinen Provinzstädten, die zum ersten Mal im Leben an einer Demonstration teilnahmen, sich vom Aktionsfieber anstecken und dann erwischen ließen.
Ob der Protest sich auch über die Feiertage hinzieht, ist ziemlich fraglich. Bislang bremste die Weihnachtsperiode noch fast jeden Protest aus, vorübergehend oder dauerhaft. Und beim «Akt Fünf» am 15.Dezember war die Mobilisierung zum ersten Mal erkennbar rückläufig.
Minimale Zugeständnisse
Die einsetzende Eiseskälte, aber auch unterschiedliche Einschätzungen der Zugeständnisse, die Emmanuel Macron verkündet hat, haben sicher zu dem Rückgang beigetragen. Zu diesen zählt eine angebliche Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC (er beträgt derzeit rund 1150 Euro netto) um 100 Euro ab Februar 2019, die jedoch das Kapital «keinen Euro zusätzlich kosten» soll. Tatsächlich handelt es sich hierbei gar nicht um eine Lohnerhöhung, sondern um einen Steuerkredit, der Geringverdienenden unter bestimmten Bedingungen zugute kommt. Er wird mit der Einkommensteuer verrechnet und gilt als Anreiz, auch eine schlecht bezahlte Erwerbstätigkeit aufzunehmen, statt von Sozialleistungen zu leben, und er ist steuerfinanziert. Zusäzlich hat Macron den Unternehmen vorgeschlagen, auf freiwilliger Basis ihren Beschäftigten eine Jahresprämie auszuzahlen, für die sie dann ihrerseits eine Steuervergünstigung erhalten. Mehrere Großunternehmen wie TOTAL, Orange, SFR und Free, aber auch die Bahngesellschaft SNCF haben eine solche Prämienzahlungen zum Jahresende angekündigt, meist in Höhe von 1000 Euro.
Ferner sollen Überstunden der Beschäftigten künftig weder auf der Seite der Lohnabhängigen noch auf der des Kapitals mit Steuern und Sozialabgaben belastet werden – diese Maßnahme hatte bereits der rechte Präsident Nicolas Sarkozy 2007 beschlossen, sie wurde jedoch 2012 unter François Hollande wieder abgeschafft.
Da trifft es sich gut, dass Sarkozy seit der ersten Dezemberwoche faktisch neuer Berater von Macron wurde: Der Amtsinhaber konsultiert seinen Vorvorgänger im Amt regelmäßig vor seinen neuen Beschlüssen. Das Regierungslager, das ursprünglich um einen linksliberalen Touch bemüht war, rückt dadurch deutlich nach rechts.
Diese Maßnahmen werden den Staatshaushalt voraussichtlich 10 Milliarden Euro zusätzliche Staatsausgaben im Jahr 2019 kosten. Nun bemühen er und sein Premierminister Edouard Philippe sich eifrig, der EU-Kommission in Brüssel und der deutschen Bundesregierung zu erklären, man habe dennoch finanzpolitisch nicht verantwortungslos gehandelt.
Wie weiter?
In den Reihen der heterogenen Bewegung der gelben Westen hat nun eine Strategiedebatte begonnen. In Toulouse wird etwa darüber diskutiert, sich in Kommissionen aufzuteilen, neue Politikfelder zu bearbeiten oder diverse Boykotte im Alltag – etwa gegenüber Stromkonzernen – zu organisieren.
Auf Landesebene kristallisiert sich unterdessen heraus, dass die Forderung nach Einführung der Möglichkeit eines Referendums zur Abschaffung eines bestehenden oder Einführung eines neuen Gesetzes für Teile der Bewegung zum neuen Allheilmittel zu werden scheint. Die Situation ähnelt dabei ein wenig jener in der Schlussphase der Platzbesetzerbewegung Nuit debout im Frühjahr 2016, als Teile der Protestierenden nach dem Scheitern der zeitgleich stattfindenen Streiks gegen die Arbeitsrechtsreform ihr Patentrezept darin fanden, eine neue Verfassung entwerfen zu wollen. Und zwar am Basteltisch, also entkoppelt von gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen darum.
Premierminister Edouard Phlippe erklärte am 17.Dezember, ein solches Gesetz könne die Regierung gerne einführen, ein Referendum sei «ein gutes Instrument in einer Demokratie», also mit dem bestehenden System vereinbar.
Zugleich hat eine Debatte um eine eventuelle Betätigung in Parteiform begonnen. Allerdings wird dieser Vorschlag auch in hohem Maße von außerhalb an die Bewegung herangetragen – in deren Reihen träumen wiederum manche Protagonisten von einer Kandidatur mindestens zu den Kommunalwahlen im März 2020. Vor allem die Regierungspartei LREM propagiert öffentlich und lautstark die Idee, eine Liste der gelben Westen könne zu den Europaparlamentswahlen am 26.Mai 2019 antreten.
Vereinnahmungen
Dies käme ihr nämlich durchaus entgegen. LREM ließ bei einem Umfrageinstitut eine Befragung darüber in Auftrag geben. Ergebnis: Eine solche Liste würde demnach vor allem von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon Wähler abziehen, also die aktivsten Oppositionsparteien auf der Rechten und auf der Linken schwächen.
Allerdings dürfte dies kaum funktionieren, vielmehr würde das Aufstellen gemeinsamer Listen eine heterogene Protestbewegung wohl sofort auseinandertreiben. Nun richten diverse politische Parteien ihr jeweiliges Angebot an die gelben Westen. Der designierte Spitzenkandidat der PCF, Ian Brossat, möchte welche einladen, auf seinen Listen zu den Europaparlamentswahlen zu kandidieren. Der Linksnationalist und linke Sozialdemokrat Jean-Luc Mélelchon verkündet, die Bewegung der gelben Westen habe ihn voll und ganz «bestätigt», sie übernähmen sein volles Programm. Mélenchons Berater und Abgeordneter Alexis Corbière hingegen sieht die Wahlplattform von La France insoumise in einem Wettlauf mit der extremen Rechten, erkennt also einen tobenden Hegemoniekampf.
In Umfragen verliert Mélenchon derzeit deutlich gegenüber dem Niveau, das er bei der Präsidentschaftswahl 2017 erreicht hat (knapp 20 Prozent). Dies liegt unter anderem an seinem wiederholt egozentrischen und polternden Auftreten in der Öffentlichkeit. Mélenchon lieferte sich im Zusammenhang mit einer Hausdurchsuchung bei ihm im Oktober handgreifliche Auseinandersetzungen mit den Polizisten und rief in einer spektakulären Szene, die über alle Kanäle verbreitet wurde: «La République, c’est moi!» Dieser Auftritt kostete ihn ganz erhebliche Sympathien.
Unterdessen empfing der konservative Oppositionsführer, Laurent Wauquiez, am 17.Dezember Vertreter der gelben Westen. Auch die Neofaschistin Marine Le Pen profitiert erkennbar von der neuen innenpolitischen Situation. Fänden am kommenden Sonntag Präsidentschaftswahlen statt, erhielte sie laut einer jüngsten Umfrage 27 Prozent und damit den ersten Platz im ersten Wahlgang (vor eineinhalb Jahren waren es 21,3 Prozent und der zweite Platz). Die Umfrageinstitute sehen darin eine Auswirkung der jüngsten Proteste, bei denen sie ostentativ als Unterstützerin auftrat. Am 7.Dezember schlüpfte sie jedoch in die staatsmännische Rolle und wies darauf hin, die Fünfte Republik gebe dem jeweiligen Präsidenten die wichtigste Rolle, deswegen solle man nicht den Rücktritt Emmanuel Macrons fordern. Le Pen glaubt nicht an eine rechte Machtergreifung von der Straße aus und wartet in Ruhe auf ihre Stunde – wenn die politische Linke es nicht schafft, als hinreichend glaubwürdige und vor allem dynamische Alternative zu ihr und zum Regierungslager zu erscheinen.
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