von Axel Weipert*
Oft wird den Deutschen nachgesagt, sie seien kein Volk von Revolutionären. Vor hundert Jahren aber war das Gegenteil richtig, auch wenn diese revolutionäre Tradition im öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschüttet ist. Denn der zentrale Akteur dieser Revolution war die basisdemokratisch-sozialistische Rätebewegung.
Die Revolution in Deutschland ist untrennbar mit der Gründung von Räten verbunden. In den ersten Tagen waren sie zentrale Akteure der Umwälzung, Anhänger und Gegner identifizierten sie geradezu mit der Revolution selbst. Sie waren prädestiniert als Instrument der Massen, da sie lokal und relativ unkompliziert entstanden. Und sie ermöglichten eine direkte Einflussnahme der Wähler auf politische Fragen. Es war überhaupt ein wesentliches Merkmal dieser Revolution, dass sie nicht zentral geplant oder gelenkt wurde.
Kerngedanke des Rätesystems war die Vorstellung einer umfassenden Demokratisierung von unten. Gewählte Vertreter sollten stets mit ihren Wählern in engem Austausch stehen, diesen gegenüber verantwortlich sein und auch jederzeit abgewählt werden können. Eine Reihe von Merkmalen des Rätesystems sollte das sicherstellen – wenn auch kaum ein realer Rat alle diese Punkte erfüllte. Gewählte Räte bilden demnach Gremien, die gesetzgebende und verwaltende Funktionen vereinen sollen. Jeder Rat wird von seinen Wählern mit einem imperativen Mandat ausgestattet und kann also jederzeit von diesen abberufen werden. Ein wichtiger Unterschied zwischen Räten und einem parlamentarischen Repräsentativsystem besteht darin, dass die Räte nicht nur als Organisationsstruktur zu denken sind. Vielmehr sind sie ganz bewusst auch als das entscheidende Instrument zum Aufbau eines Rätesystems konzipiert. Ziel und Mittel fallen also zusammen. Das bedeutet konkret, dass den Räten eine Doppelrolle zukommt als Forum der Willensbildung und als Organisator der politischen Aktivitäten. Die Basis konnte dabei ganz entscheidenden Einfluss ausüben und beispielsweise Aktionen auch gegen den Willen der Führer beschließen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Aktivität der Wähler nicht auf den Wahlakt beschränkte: Streiks oder Demonstrationen wurden immer von der Basis selbst durchgeführt. Damit verfügten die Räte über eine starke demokratische Legitimation – vor allem, nachdem die ersten, oft per Akklamation entstandenen Strukturen durch solche ersetzt wurden, die nach einem ausgearbeiteten Wahlsystem bestimmt wurden.
Verbreitung
Dass die Räte als revolutionäre Organisationsformen bekannt und geläufig waren, zeigt sich anhand der Tatsache, wie schnell und flächendeckend sie sich in weiten Teilen Deutschlands entfaltet haben. Es gab im Winter 1918/19 kaum eine Stadt, einen Betrieb oder einen Garnisonsstandort in Deutschland, an dem sie nicht entstanden. Praktisch alle Zeitungen berichteten ab Anfang November ausführlich über die Bewegung und sorgten so, gewollt oder nicht, zusätzlich für die rasche Verbreitung der Räteidee.
In kleineren Städten erfolgten die Einsetzung und erste Wahl in der Regel nach einer größeren Demonstration auf einem zentralen Platz. In den Großstädten kam die Bildung meist nach vorgeschalteten Delegiertenwahlen in den Betrieben oder Verhandlungen zwischen den linken Parteien und Gewerkschaften zustande. In den ersten Revolutionstagen war vieles improvisiert, klare Strukturen und Regeln wurden erst später aufgestellt – Revolutionen laufen nicht nach einem festen Drehbuch ab. Vieles hing von den lokalen Verhältnissen ab. Radikale Räte – etwa in Bremen, Braunschweig, Halle oder in Teilen des Ruhrgebiets – standen gemäßigteren Räten gegenüber, die in den meisten Kleinstädten und im Südwesten Deutschlands dominierten. Zu Beginn spielten zudem Soldaten, vor allem Matrosen der Kaiserlichen Marine, oft eine ganz entscheidende Rolle.
In Berlin bildete sich neben der neuen Regierung auch ein zentrales Organ der Räte, der Vollzugsrat. Er stützte sich auf rund 800 Delegierte aus den Betrieben der Hauptstadt und konnte in den ersten Wochen zudem als höchstes Gremium der Räte ganz Deutschlands agieren. Damit geriet er in die Rolle eines ernsthaften Konkurrenten der Regierung um die höchste Staatsgewalt.
Eine Klärung dieses Konflikts ergab sich erst auf dem ersten Reichsrätekongress, der im Dezember 1918 in Berlin zusammentrat. Einerseits beschloss der Kongress eine durchgreifende Demokratisierung des Militärs: Offiziere sollten von den Mannschaften gewählt und einige Symbole der strengen Hierarchie wie die Grußpflicht abgeschafft werden. Außerdem wurde eine umfangreiche Sozialisierung von Unternehmen gefordert. Vor allem aber entschieden sich die Räte für ihre Selbstentmachtung zugunsten eines parlamentarischen Systems. Möglichst bald sollte nun die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt werden. Mit dieser Entscheidung setzten sich die gemäßigten Räte gegenüber den radikalen durch. Denn die Radikalen hatten sich nicht die parlamentarische, sondern die Räterepublik zum Ziel gesetzt. Manche plädierten auch für ein Mischsystem aus Parlament und Räten.
Räte überall
Die Aktivitäten der Räte auf lokaler Ebene waren sehr vielfältig. Neben der Militärreform durch die Soldatenräte, die schon bald auf Drängen der Offiziere von der Regierung wieder zurückgenommen wurde, war das vor allem die Demokratisierung der Verwaltung. Denn die Revolution hatte zwar die Staatsspitze ausgetauscht, die kaiserlichen Beamten arbeiteten aber weiter. Hier eröffnete sich ein weites Feld der Kontrolle für die Räte. Es gehört aber zu den großen und für die junge Republik fatalen Versäumnissen, dass eine wirkliche Verwaltungsreform nicht angegangen wurde.
In den Unternehmen waren die Räte ebenfalls sehr aktiv, und dabei waren sie erfolgreicher als in der Verwaltung. Verbesserungen im Arbeitsalltag konnten ebenso durchgesetzt werden wie höhere Löhne und die Mitbestimmung der Belegschaften. Noch ambitioniertere Ziele scheiterten aber.
Bemerkenswert ist die enorme Bandbreite der Rätebewegung, die über den Kernbereich der Arbeiter- und Soldatenräte weit hinausging. Auch Lehrlinge, Erwerbslose, Frauen, Intellektuelle oder Künstler haben eigene Rätestrukturen gebildet. Mit Blick auf Frauen in der Rätebewegung ist festzuhalten: Einerseits wurden viele Vorschläge für eine Einbindung von Frauen in die bestehenden Räte sowie die Bildung eigener Frauenräte formuliert. Dabei kamen auch heute noch aktuelle Fragen zur Sprache, etwa die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Andererseits waren Frauen in der Rätepraxis stark unterrepräsentiert.
Nach der spontanen Bildung der Räte entwickelte sich bald eine breite Debatte über ihr weiteres Schicksal. Ließ sich die Rätebewegung in die bestehende Ordnung integrieren oder strebte sie aktiv eine zweite revolutionäre Welle an? Zu den Vordenkern der radikalen Räte gehörten z.B. Richard Müller und Ernst Däumig vom Groß-Berliner Vollzugsrat. Sie entwickelten das sogenannte «reine Rätesystem».
Stattdessen stabilisierte sich jedoch die Weimarer Republik mit ihrer rein parlamentarischen Staatsstruktur und mit einer weiter auf Privateigentum basierenden Wirtschaftsordnung. Auch die Offiziere setzten sich gegen die Soldatenräte durch und bauten eine Reichswehr nach ihren eigenen konservativen Vorstellungen auf. Dennoch hatte die Rätebewegung entscheidenden Anteil daran, dass in der Weimarer Reichsverfassung den Räten auch zukünftig einige Kompetenzen zugesprochen wurden. Auf diese Verfassungsbestimmung baute dann das Betriebsrätegesetz vom Februar 1920 auf. Es kann als Vorläufer der heutigen Mitbestimmung und der Betriebsräte gesehen werden. Das Gesetz ist damit das einzige Erbe der Rätebewegung, das noch heute zumindest indirekt von praktischer Bedeutung ist.
Die Rätebewegung gehört nicht nur zum Kern der deutschen Revolution, sie ist auch ein wichtiger – und doch oft vergessener – Teil der Demokratiegeschichte Deutschlands.
* Auszüge mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: «Russische Zustände an der Spree?» Beitrag für die Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Emanzipation und Enttäuschung. Perspektiven auf die Novemberrevolution 1918/19, September 2018 (www.rosalux.de/publikation/id/39298/emanzipation-und-enttaeuschung). Von Axel Weipert ist erschienen: Die zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920 (Berlin: be.bra wissenschaft, 2015. 476 S., 32 Euro).
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.