von Eric Toussaint*
Manche Menschen meinen, wenn eine Bewegung sich gegen eine Steuer richtet (ein Instrument, das theoretisch der Umverteilung dienen soll) anstatt für eine Lohnerhöhung zu kämpfen (im weiten Sinne, einschließlich des Soziallohns), ist sie rechts. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Viele revolutionäre Bewegungen sind ausgebrochen, weil die Steuerlast als ungerecht empfunden wurde und für die Mehrheit der Bevölkerung untragbar geworden war.
Die Französische Revolution hat damit begonnen, dass die ungerechte Steuerpolitik des Königs zurückgewiesen wurde. Die Mehrheit der Bevölkerung litt damals unter einer ungeheuren Steuerlast, die zudem auch noch völlig ungleich verteilt war, weil Adel und Klerus keine Steuern bezahlten. Warum aber erhöhte der König die Steuer? Um die Staatsschulden zurückzuzahlen, die er bei den Bürgern aufgenommen hatte, Staatsschulden, die allein für die Interessen des Regimes verwendet wurden, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung.
Einer der Auslöser der Revolution in Lüttich 1789 war die Biersteuer, sie war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Auch hier nahm das Volk es nicht mehr hin, dass Adel und Klerus von der Steuer befreit wären, und erregte sich darüber, dass 25 Prozent des Haushalts des Fürstentums Lüttich in die Bezahlung einer illegitimen Staatsschuld fließen sollten.
Die erste russische Revolution von 1905 entzündete sich an den ungerechten Steuern, die erhoben wurden, um die Staatsschulden, die im Verlauf der Kriege, die der Zar geführt hatte, ständig gestiegen waren, zurückzuzahlen. Bevor die revolutionäre Führung an der Spitze der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte von St.Petersburg von der zaristischen Polizei verhaftet wurde, hatte sie verkündet, dass mit der Rückzahlung der Schulden des Regimes Schluss sein sollte.
Die von Margaret Thatcher 1989 in Großbritannien verhängte Poll Tax (Kopfsteuer) provozierte eine starke Massenbewegung, denn sie sollte alle gleichermaßen treffen, was als sehr ungerecht empfunden wurde. Es gab Aufstände in verschiedenen Teilen des Landes und die Eiserne Lady stürzte darüber.
Die Bewegung der gelben Westen 2018 ist Ausdruck eines tiefen Unmuts über die schreiende Ungerechtigkeit der Politik der Regierenden. Sie hat Frankreich, seine Kolonie (die Insel Réunion) und Belgien (vorwiegend die Regionen Wallonien und Brüssel) erfasst.
Eine Bewegung der Unorganisierten
Ein großer Teil der Bevölkerung sieht seine Einkommen geschmälert, sie leidet unter der Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen und hat es immer schwerer, durch den Monat zu kommen. Die Mehrheit derer, die an der Bewegung teilnehmen, ist nicht in Parteien oder Gewerkschaften organisiert. Die gelben Westen wenden sich gegen ungerechte Steuern, miserable Löhne und Renten, sie fordern eine Anhebung des Mindestlohns und der Kaufkraft. Sehr oft taucht die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögensteuer auf.
Die Regierenden erklären, die Anhebung der Steuer auf Diesel sei notwendig, um den Kimawandel zu bekämpfen und die Schulden zurückzuzahlen. Die Erklärung überzeugt aber nicht. Warum? Weil die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger genau weiß, dass die Regierung nicht wirklich gegen den Klimawandel kämpft: Es gibt keine Besteuerung des Flugbenzins, keine Steuer auf die Gewinne der Ölmultis, keine Alternative zum Privatauto, im Gegenteil: weniger Züge und teuerere Fahrpreise, usw. Und während die Regierung die Kaufkraft der einfachen Leute angreift, hält sie für die Reichen und die Großunternehmen immer neue Geschenke bereit.
Wie 1789 ist eine Dynamik in Gang gekommen, bei der spontan und kollektiv Beschwerdebücher erstellt werden: sie enthalten Forderungen und Vorschläge, die über die sozialen Medien zusammengetragen und zwischen Leuten diskutiert werden, die sich gestern noch nicht kannten und heute gemeinsam Posten stehen, um den Autoverkehr und den Eingang zu den Häfen, den Industriedepots, den «Finanztürmen» zu blockieren. Sie wollen gehört werden und diskutieren. Für viele ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Politik «auf der Straße» machen, lernen, sich selbst zu organisieren und der Repression zu widerstehen, sich bewusst machen, dass die Massenmedien und die Regierenden sie desinformieren.
Einige Demonstrationen nehmen einen gewalttätigen Verlauf, so wie immer bei großen gesellschaftlichen Eruptionen in der Geschichte der Menschheit.
Viel Peitsche und wenig Zuckerbrot
In Frankreich hat die Justiz, eine Komplizin der Machthaber, beschlossen, gegen die Protestierenden rabiat vorzugehen. Im Eiltempo werden hohe Gefängnisstrafen verhängt – in einem Ausmaß, das man seit 60 Jahren nicht mehr erlebt hat. Es geht buchstäblich darum, die Bewegung mit Gewalt so einzuschüchtern, dass sie vor der Demonstration soviel gewalttätiger, tauber, ungerechter und autoritärer Macht einknickt und ihren Zorn begräbt.
Diese Politik erinnert an die Feldzüge gegen die gefährlichen Klassen im 19.?Jahrhundert. Die Justiz zeigt ihren Charakter als Klassenjustiz. Einerseits verhängt sie gegen gelbe Westen vier oder sechs Monate Gefängnishaft, weil sie an Protestaktionen teilgenommen haben, bei denen öffentliche Güter beschädigt wurden. Die Vorstände der Banken und der Großunternehmen aber, die sich systematisch am öffentlichen Eigentum vergreifen durch Steuerhinterziehung und großangelegten Betrug, bleiben ungeschoren. Kein einziger hochgestellter Unternehmensboss ist jemals für die Schäden ins Gefängnis gewandert, die die Krise von 2007/2008 angerichtet hat – dabei belaufen sie sich auf Dutzende von Milliarden Euro.
Mit Zuckerbrot und Peitsche versucht Macron, der Bewegung die Spitze abzubrechen. Er hat angekündigt, die Erhöhung des Dieselpreises und die technischen Kontrollen auszusetzen. Aber er weigert sich, den Mindestlohn und die Renten anzuheben. Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer lehnt er ab. Die Sparpolitik soll weitergehen, womit die Einkommen der Bedürftigsten weiterhin stagnieren werden.
Es wird auch keine massiven Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und eine Preissenkung in diesem Bereich geben, wo das doch ein hervorragendes Mittel zur Bekämpfung des Klimawandels wäre! Ein Sondersteuer für besonders emissionsstarke Betriebe wie den Erdölkonzern Total soll es nicht geben. Die Liste, was alles zu tun wäre und was Macron nicht tun wird, um die soziale und die Klimakrise zu lösen, ist lang.
Woher kommen die Schulden?
In den Diskussionen der Bewegung ist es wichtig zu betonen, dass die ungerechten Steuern und Abgaben dazu dienen, eine Staatsschuld zu bedienen, die selber ungerecht ist. Denn diese Staatsschuld ist in den letzten Jahren stark gestiegen, sie wurde angehäuft, um die Sonderinteressen einer privilegierten Minderheit zu bedienen: die Großaktionäre und die Bankenvorstände, die von den Bankenrettungen seit 2007/2008 profitiert haben; die Reichen, die ständig neue Steuergeschenke bekommen haben; die Großunternehmen, die nur sehr wenig Steuern zahlen…
Hinzu kommt, dass die Regierungen ihre Schuldentitel bei Geschäftsbanken und Investmentsfonds unterbringen, die das Privileg genießen, Kredite an die öffentliche Hand zu vergeben. Diese inakzeptable Praxis wird vom Vertrag von Maastricht diktiert, sie verteuert die Kreditaufnahme der öffentlichen Hand, die das durch höhere Steuern und Gebühren von der Bevölkerung wieder reinholt, während die Reichsten wie in der Zeit des Ancien Régime praktisch davon befreit sind.
Ein großer Teil der neuen Staatsanleihen dient der Refinanzierung alter Schulden und stellt somit eine Rente für die privaten Banken und die Reichen dar, die die Schuldentitel kaufen. Aus diesen Gründen sind diese Schulden illegitim und man muss dafür kämpfen, dass sie annulliert werden.
Die andere Seite dieser Medaille bildet die Tatsache, dass ein großer Teil derjenigen, die sich an der Bewegung der gelben Westen beteiligen, bei den Banken verschuldet sind, weil ihre mageren Einkünfte nicht einmal für die Grundversorgung reichen: Wohnung, Nahrungsmittel, Heizung, Kleidung, Körperpflege, Schulbildung… Man kann das deutlich an der Lage der Personen ablesen, die in den letzten Tagen verurteilt wurden: Ein großer Teil von ihnen ist überschuldet, weil ihr Einkommen das Lebensnotwendige nicht deckt. Es müssen also Maßnahmen ergriffen werden, um einen Teil dieser Haushaltsschulden zu streichen, denn sie bedeuten eine Senkung der Realeinkommen.
Schließlich erbringt die Regierung gerade den praktischen Beweis für die Aktualität des «Kommunistischen Manifests», in dem heißt: «Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.» Nach vier Jahrzehnten neoliberaler Offensive hat die kapitalistische Ausbeutung die Bevölkerung heute in eine Lage gebracht, die immer stärker der Lage des Proletariats im 19.Jahrhundert ähnelt: Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, Senkung der Einkommen, eine Machtverschiebung zugunsten der Unternehmer bei Arbeits- und Tarifverträgen, Altersarmut, allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen, Stigmatisierung der sog. gefährlichen Klassen, willkürliche und maßlose Repression, um Exemple zu statuieren und soziale Proteste zu verhindern…
Es ist höchste Zeit für radikale Lösungen. Eine Alternative im Interesse der Bevölkerungsmehrheit muss die Sparpolitik ins Visier nehmen, aber auch die Staatsschulden, das Kreditwesen, die privaten Banken, die Eurozone, die autoritäre Politik – und sie muss konstituierende Prozesse für neue Verfassungsgrundlagen einleiten. Die Bilanz der Periode 2010–2018 in der Eurozone ist klar: Es ist unmöglich, aus der Sparpolitik auszusteigen, ohne auf die genannten Probleme eine Antwort zu geben. Natürlich muss eine gesellschaftliche Alternative auch andere Fragen aufgreifen: die Klima- und Umweltkrise; die humanitäre Krise, die die Festung Europa bewirkt, durch die Jahr für Jahr Tausende Migranten im Mittelmeer und anderswo sterben; die Krise im Nahen Osten… Es geht auch um den Kampf gegen die extreme Rechte und den Aufstieg des Rassismus. Und es geht darum, Brücken zu bauen zu den Bewegungen gegen Trump und zu der neuen radikalen Linken in den USA, wie auch zu den radikalen Bewegungen auf dem europäischen Kontinent, etwa in Großbritannien.
* Eric Toussaint leitet das Komitee für die Streichung der Schulden der Dritten Welt (CADTM).
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