von Bernard Schmid
Die Protestbewegung der «Gelben Westen» ist allem Anschein nach nicht tot zu bekommen, und lässt sich auch durch Emmanuel Macrons Angebot eines institutionalisierten «Großen nationalen Dialogs» bislang nicht eindämmen.
Am 19.Januar demonstrierte erneut eine größere Zahl von Menschen in einer Reihe von französischen Städten.
In Toulouse, wo die Bewegung im Vergleich zu anderen, v.a. ostfranzösischen Regionen relativ links und gewerkschaftsaffin ist, war von einer «Rekord»mobilisierung die Rede, die Präfektur, also juristische Vertretung des Zentralstaats, sprach selbst von 10000 Teilnehmenden. Auch in einer mittelgroßen Stadt wie Béziers in Südwestfrankreich mit gut 70000 Einwohnern war von einem «Rekord» die Rede, in diesem Falle wurden rund 3000 Teilnehmende gezählt.
Béziers ist ein Beispiel dafür, wie die Bewegung ihren Charakter ändert. Das Rathaus der Stadt wird rechtsextrem regiert, Bürgermeister Robert Ménard ist mittlerweile berüchtigt. Vor allem in den Anfangswochen der Mobilisierung unternahm die Rathausmannschaft alles, um sich zum vermeintlich gewichtigen Unterstützer der örtlichen Proteste aufzuschwingen. Tatsächlich weist die heterogen zusammengesetzte Protestbewegung stellenweise auch eine rechte Komponente auf, die konkrete Zusammensetzung variiert je nach Städten und Regionen. Doch die Fotos vom 19.Januar in Béziers wiesen diesmal auf eine progressive Prägung hin. So blockierten die Protestierenden eine halbe Stunde lang den Zug(fern)verkehr im örtlichen Bahnhof, indem sie sich mit erhobenen Händen über dem Kopf auf die Gleise setzten. Das war eine Anspielung auf die Massenfestnahme von 159 Oberschülern am 6.Dezember in Mantes-la-Jolie, einer Pariser Trabantenstadt mit überdurchschnittlich hohem Migrationsanteil an der Wohnbevölkerung.
Die Sache hatte landesweit Empörung ausgelöst, an zahlreichen Orten ahmten Proteste die Szene mit den hoch erhobenen Händen nach. Rechten und Rechtsextremen dürfte in diesem Fall die Identifikation den mit den Betroffenen jedoch schwer fallen; eine rechtsintellektuelle Publikation, Causeur, sprach mit Bezug auf die betroffenen Schüler gar von «barbarischen Horden». Demnach trug auch die Aktion in Béziers überwiegend keine «rechte Handschrift».
Die Gewalt der Polizei
In der Hauptstadt Paris demonstrierten an dem Tag laut französischer Nachrichtenagentur AFP 5000 (später auf 7000 hochkorrigiert), laut der britischen Agentur Reuters hingegen 10000 Menschen am Nachmittag. Zu Zwischenfällen, wie etwa Glasbruch oder auch Auseinandersetzungen mit der Polizei, kam es, wie schon am Samstag zuvor (dem 12.Januar), nur in vergleichsweise geringem Ausmaß.
Dennoch wurden auch dieses Mal erneut Personen mit Hartgummigeschossen vom Typ flash-ball aus polizeilichen Distanzwaffen vom Typ LBD 40 (40 Millimeter) verletzt. Vor allem in den vergangenen acht Tagen wurde deren Einsatz zum innenpolitischen Topthema und zur Zielscheibe der zunehmend massiv und laut werdenden Kritik. Ein Protestteilnehmer, ein 47jähriger Feuerwehrmann in Bordeaux, liegt wegen einer mit solcher Munition erlittenen Kopfverletzung im Koma. Auch Gewerkschaften, insbesondere die CGT und die Bildungsgewerkschaft FSU, äußerten sich zum Thema.
Frankreichweit demonstrierten laut Angaben des französischen Innenministeriums erneut 84000 Menschen, soviel wie am Samstag zuvor. Dies bedeutet einen erheblichen Anstieg gegenüber den Protesttagen am 22. und 29.Dezember, aber auch gegenüber dem ersten Termin in diesem Jahr, dem 5.Januar. Damals sollen es laut Innenministerium frankreichweit 50000 Menschen gewesen sein, darunter 5000 in Paris.
Diesmal setzte erstmals ein aus den Reihen der Protestbewegung gebildetes Kollektiv, das jeweils vor Ort die Teilnehmenden zählte, den Angaben des Innenministeriums eigene Zahlen entgegen. Es spricht für den 19.Januar von frankreichweit 147365 Demonstrierenden. Die Zahl soll offensichtlich möglichst präzise klingen, was aber auf die Schwierigkeit stößt, dass es immer eine gewisse Unschärfe beim Zählen von Demonstrierenden gibt.
Formwandel
Die Protestbewegung auf den Straßen und Plätzen hat offensichtlich ihren Charakter gewandelt. Und dies aus mindestens drei Gründen.
Zum ersten war in der Anfangsphase ein Gutteil der Bewegung darauf konzentriert, bestimmte Verkehrskreisel oder -knotenpunkte, Kreuzungen, Autobahnauffahrten oder Zubringer über Tage und Wochen zu besetzen. Es war deshalb auch schwierig, die Zahl der Teilnehmenden mit denen von klassischen, gewerkschaftlich initiierten Sozialprotesten zu vergleichen, die oft reine Laufdemonstrationen sind mit einem wesentlich geringerer Zeitaufwand. Gewerkschaftlich initiierte Sozialproteste sind häufig auch von Arbeitsniederlegungen oder Arbeitskämpfen begleitet, die im Zusammenhang mit den «Gelbwesten» jedoch so gut wie keine Rolle spielen.
Diese Phase ist weitgehend vorüber. Seit der vorletzten Woche (noch im Dezember) wurden zahlreiche besetzte Verkehrspunkte polizeilich geräumt, oder unter der Drohung einer solchen Räumung aufgegeben. Sicherlich spielte auch die damalige Feiertagsperiode eine Rolle bei der Ausdünnung der Präsenz an diesen Orten … und auch die gesunkenen Temperaturen. Selbstverständlich gibt es auch das «normale» Phänomen der Kräfteauszehrung bei manchen Beteiligten, oder der notwendigen Konzentration auf ihr Erwerbsleben.
Zum zweiten ist die Protestbewegung in urbanen Zentren wie Paris, Toulouse, Bordeaux, aber auch in Städten wie Lille und Besançon seit Anfang Januar stärker geworden. Zwar überwiegt nach wie vor die Bevölkerung kleiner und mittlerer Kommunen oder Städte – gemessen an der jeweiligen Einwohnerzahl sind die Proteste hier stärker als in den urbanen Ballungsräumen. Das hat die Bewegung von Anfang an gekennzeichnet. Doch jetzt kommen die Einwohner kleinerer Kommunen zunehmend in mittlere und größere Städte, um dort zu demonstrieren, etwa aus den Dörfern und Kleinstädten der Normandie nach Evreux, südlich von Rouen, usw.
Insofern ähneln die samstäglichen Demonstrationen nunmehr verstärkt denen gewerkschaftlich beeinflusster Sozialproteste, die sich ebenfalls meist auf Bezirkshauptstädte und urbane Zentren konzentrieren.
Suche nach mehr Struktur
Zum dritten geht damit aber auch ein Formwandel einher. An den letzten beiden Samstagen (12. und 19.Januar) waren etwa in Paris Ordnerdienste zu beobachten, die für einen mehr oder minder reibungslosen Ablauf der Demonstrationen sorgen sollten. Es ist nicht ganz klar, wer sie beauftragt hat, da es keine zentrale Koordinierungsstruktur der aktuellen Protestbewegung gibt – im Unterschied etwa zu einer Gewerkschaft, die im Guten oder im Schlechten eine identifizierbare Leitungsstruktur mit mehr oder minder klaren Verantwortlichkeiten aufweist – und in der Regel eben auch einen identifizierbaren Ordnerdienst.
Seit dem 26.November gibt es ein achtköpfiges Sprechergremium das, in den Vororten des Pariser Ostens entstand, wo die Gelben Westen relativ stark verankert sind; es legitimierte sich durch die Facebook-Konsultation wohl einiger Tausend Sympathisierenden. Mittlerweile ist das Gremium jedoch auseinander gefallen. Die beiden Hauptfiguren, die Therapeutin und Karibikfranzösin Priscillia Ludosky und der eher rechtslastige und ziemlich draufgängerische Fernfahrer Eric Drouet – er wurde in den letzten Wochen mehrfach festgenommen – gingen offenkundig im Streit auseinander.
Es ist prinzipiell nicht verkehrt, wenn es eine Art Sicherungsabteilung in Demonstrationen gibt, die bei Übergriffen auf eine Demo aktiv werden kann – aber in der Regel auch (meist präventiv) kontraproduktive Aktionen wie etwa Plünderungen mindestens eindämmt.
Das Problem in diesem Fall ist jedoch, dass an den letzten beiden Samstagen – vor allem am 12.Januar – eine Reihe von Visagen ausgemacht wurden, die ziemlich unzweideutig entweder zu Militärs oder zu Faschisten gehören. Wahrscheinlich wurden diese Leute aus eigenem Antrieb aktiv, es genügte ja, sich freiwillig zu melden. Doch in diesem Falle dürfte das vermeintliche Heilmittel (gegen kontraproduktive Aktionen) schlimmer sein als das Übel, das es etwa bekämpfen könnte.
Vereinnahmungsversuche von rechts
Generell bemühen sich bestimmte rechte (rechtsextreme) Strömungen, besonders auch aus dem verschwörungstheorieaffinen und antisemitischen Spektrum, in jüngster Zeit verstärkt um Sympathiewerbung in den Reihen der Bewegung bzw. an ihren Rändern. Am späten Abend des 22.Dezember wurden in der Linie 4 der Pariser Métro drei Gelbwesten beobachtet, die an der Haltestelle Réaumur-Sébastopol zustiegen, in Richtung Stadtzentrum fuhren und antisemitische Lieder sangen. Nachdem sie eine ältere, sich als Jüdin zu erkennen gebende Dame verbal belästigt hatten und dies durch den Twitter eines Journalisten, der nach 23 Uhr im selben Wagen gesessen hatte, publik wurde, löste dies am folgenden Tag einen öffentlichen Skandal aus. Am Vormittag desselben Tages hatten einige Gelbwesten am Montmartre-Hügel den «Quenelle-Gruß» (den umgekehrten Hitlergruß) entboten.
Am 12.Januar kam es erneut zu Sprüchen mit antisemitischer Tendenz einzelner Gelbwesten, denen diesmal jedoch andere umstehende Gelbwesten ins Wort fielen und widersprachen. Und am 19.Januar fand – allerdings in räumlicher Entfernung zur Demonstration – im südlichen Pariser Vorort Rungis, wo sich die Großmarkthallen befinden, ein Meeting des hauptberuflichen Antisemiten Alain Soral statt; an seiner Seite agitierten u.a. der notorische Auschwitzleugner Hervé Ryssen und Jérôme Bourbon, der Chef der alt- und neofaschistischen Wochenzeitung Rivarol. An der Veranstaltung, die unter das Motto «Gelbe Westen – die kommende Revolution» gestellt worden war, nahmen rund 500 Personen teil.
Dafür kann die große Mehrheit der Gelben Westen nichts, es handelt sich hier um einen bewussten Andockversuch. Doch die Protestbewegung wird sich darüber Klarheit verschaffen müssen, dass sie über verschiedene Gegner und Feinde verfügt, und dies keineswegs nur in Gestalt von Regierung und Polizei.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.