Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2019
An den Rand notiert
von Rolf Euler

Der Vorstandvorsitzende der Allianz-Versicherung, Oliver Bäte, gab Ende letzten Jahres ein Interview in der Zeit. Darin antwortete er auf die Frage nach den Einkommensunterschieden: «Gerechtigkeit ist für mich ein marxistischer Begriff. Ich weiß nicht, was das ist.»
Nun kann man getrost unterstellen, dass das kein «Ausrutscher» ist. Jemand mit der Ausbildung eines Vorstandsvorsitzenden in Deutschland weiß sehr wohl, dass der Begriff «Gerechtigkeit» mit Marx wenig zu tun hat, dass er nicht nur viel früher existierte als die Philosophie des 19.Jahrhunderts, sondern in allen Gesellschaften zu allen Zeiten eine historische Rolle spielte.
Wer ein bisschen Marx zu diesem Begriff nachlesen möchte, sei auf die Kritik des Gothaer Programms von 1875 verwiesen. Die Polemik von Marx gegen die Formulierung «gerechte Verteilung des Arbeitsertrags» muss Herr Bäte natürlich nicht gelesen haben, genauso wenig wie unzählige Schriften aus früherer Zeit, die «Gerechtigkeit» fordern, fördern oder erklären.
Auch die schwache Entgegnung des Chefredakteurs der Zeit, Gerechtigkeit sei «ein sehr christlicher Begriff» und ein «Thema der Aufklärung» greift nicht nur historisch viel zu kurz – selbst im Alten Testament findet man diesen Begriff bereits. Sie kann auch Herrn Bäte nicht davon abbringen, Gerechtigkeit als «subjektiv» zu denunzieren, natürlich nicht anwendbar auf seine Bezüge von knapp 5 Millionen Euro, und dann noch begütigend nachzuschieben, dass er selbstverständlich «nachvollziehen kann», dass Menschen in ihrem «Gerechtigkeitsempfinden» dadurch verletzt seien.
Mit dem Versuch, Gerechtigkeit als «marxistisch» abzuwerten, verrät Herr Bäte, dass es allerdings an den Gehaltsunterschieden von Vorständen zu «normalen» Angestellten, an der Höhe der Vorstandsbezüge von großen Konzernen nichts zu verteidigen gibt – sie sind schamlos hoch, unverhältnismäßig überzogen und haben mit irgendeiner «Arbeitsleistung» nicht das geringste zu tun. Also hilft nur der Angriff auf diejenigen, die das kritisieren, wenn nicht mit der alten Leier der «Neiddebatte», dann mit dem Vorwurf, «Marxisten» zu sein und damit prinzipiell keine berechtigten Argumente zu haben. Was für ein Zeichen der Schwäche.
Vielleicht erinnert bei der Allianz jemand Herrn Bäte daran – wenn die Zeit es schon nicht schafft –, dass der Amtseid der Bundeskanzlerin die Formel enthält: «… und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.» Es wäre schon gut, dann den entsprechenden Stellen mitzuteilen, in welche «marxistische» Falle sie seit Jahrzehnten hineingetappt sind…
Gerechtigkeit ist eine Forderung, die zu fast allen Zeiten mehr gesellschaftliche Dynamik entwickelt hat als viele andere, auch wenn sie im Interesse der jeweiligen herrschenden Rechtsordnung sicher verbogen wurde. Recht und Gesetz sind immer etwas anderes als Gerechtigkeit, die unterdrückte und ausgebeutete Menschen einfordern. Letztere hat vor allem mit grundlegenden Forderungen nach Änderung der Produktions- und Machtverhältnisse zu tun – daher die bewusste Denunzierung durch Bäte und seinesgleichen.

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