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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2019
… und die herrschende Leere im Konservatismus
von Paul B. Kleiser

Thomas Biebricher: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Berlin: Matthes & Seitz, 2018. 320 S., 28 Euro

Der Politologe Thomas Biebricher hat ein kluges Buch geschrieben, in dem nicht nur die Entwicklung der CDU seit Helmut Kohl analysiert wird, sondern auch die politischen Diskurse behandelt werden, die im Gefolge von 1968 von konservativer Seite verbreitet wurden. Er zeigt den inzwischen eingetretenen, weitgehenden Substanzverlust dieser politischen Richtung auf. Im Grunde sei nur noch die «schwarze Null» übrig geblieben.
Heute kaum noch gelesene Philosophen wie Hermann Lübbe, Helmut Schelsky, Arnold Gehlen, Günter Rohrmoser oder Odo Marquard versuchten vor allem in den 80er Jahren – häufig in Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule –, das konservative Denken zu erneuern, auch um dem «Kanzlerwahlverein» CDU ideologisch zu unterfüttern. Die von Kohl in der Regierungserklärung von 1982 verkündete «geistig-moralische Wende» sollte die Geister vertreiben, die die 1968er Bewegung herbeigerufen oder beschworen hatte.
Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise 1981/82 war in der BRD eine tiefe Unsicherheit entstanden: «Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor Umweltzerstörung, vor Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft; und gerade diese jungen Menschen ‹fühlen sich ratlos, steigen aus, flüchten in Nostalgie oder Utopien›.»
Neben der Bekämpfung der Friedensbewegung mittels Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses (und den damit verbundenen Warnungen vor der Gefährlichkeit der Sowjetunion und des Kommunismus) ging es der CDU um eine Politik der «Erneuerung» des Landes, nämlich die Begrenzung der «Belastbarkeit des Staates», die Förderung von Kohle und Kernenergie, den Abbau von Bürokratie, die Reduzierung der «Steuerlast» usw. Doch diese Maßnahmen sollten unbedingt kulturell unterfüttert werden, denn wie Kohl feststellte, «eine Politik ohne Werte … [sei] wertlos». Man brauche die «Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes», um die «geistige Krise», die zur großen Verweigerung oder aber zum Utopismus à la 1968 führe, zu überwinden. Vor allem die Familien als «Keimzellen des Staates» müssten gestärkt werden.

Modernisierung wohin?
Biebricher entwickelt seine Beurteilungskriterien anhand der Schrift «Reflexionen über die Revolution in Frankreich» (1790) von Edmund Burke, die man als Grundlegung des modernen Konservatismus ansehen kann. Burke war ein Gegner der Französischen Revolution, wusste jedoch, dass man hinter bestimmte Errungenschaften (etwa die Bauernbefreiung) nicht mehr zurückkonnte. Er verachtete die Träger des Ancien Régime, denen die Fähigkeit zu notwendigen Reformen abgegangen war. Da jedoch Menschen genauso sehr von Gefühlen wie von Ideen geleitet würden, vertrat er gegenüber den Revolutionären einen skeptischen, eher aristokratischen Pragmatismus.
In Anlehnung an Burke zeigt Biebricher nun, dass die Modernisierung (nicht nur der deutschen) Konservativen in heftigen Debatten vor dem Hintergrund der Revolten («Kulturrevolution») von 1968 erfolgte und sich seit geraumer Zeit die Einsicht verbreitet hat, dass man diese Entwicklung nicht mehr umkehren könne. Dennoch glauben einige, man müsse dem «Hedonismus der 68er», der zur «eigentlichen Leitkultur nicht nur Deutschlands, sondern des Westens insgesamt geworden» sei, den «Geist von 1948» (Mut, Aufbruch, Entschlossenheit) entgegensetzen. Sie möchten ihre reaktive Aufgabenstellung an «vier Themenkomplexen» festmachen: «Familie, Religion, Sicherheit und Massenkultur».
Die Haupttendenz nach 1989 lag jedoch in der neoliberalen «Freidemokratisierung» der Union, die ihren Höhepunkt auf dem Leipziger Parteitag 2003 erreichte, nachdem Schröder zuvor seine «Agenda 2010» verkündet hatte. Die CDU wollte – gegen den einsamen Protest von Norbert Blüm – damals die Renten- und Pflegeversicherung (wie heute die AfD) zumindest teilweise auf ein Kapitaldeckungssystem umstellen und in der Krankenversicherung die Kopfpauschale einführen. Damals kritisierte Alexander Gauland in der Taz (!) an der neuen Parteichefin Angela Merkel, sie verstehe einfach nicht das «katholisch-kollektivistische Erbe» der CDU.
Wenige Jahre später hatte «Leipzig» in der CDU denselben Negativklang wie «Agenda 2010» in der SPD. Zunächst hatte die Union jedoch in Hessen (Koch mit seiner migrationsfeindlichen Kampagne) und im Saarland (Müller) unerwartete Wahlsiege eingefahren. «Während sich die damals so bezeichneten ‹jungen Wilden› mit donnernder Rhetorik begeistert über die Globalisierung der Ökonomie, über den Segen der Gentechnologie und den Imperativ allumfassender Flexibilität äußerten, saßen die älteren katholischen Kreisvorsitzenden stumm und verschlossen auf ihren Plätzen, da sie durch die entgrenzte Modernisierung das christliche Menschenbild, die christliche Familie und das ganze christliche Abendland in Gefahr und Auflösung sahen» (Walter et al.: Die CDU, zitiert nach Biebricher). Kurzzeitig wurden die Migration, der Islam und vor allem der Beitritt der Türkei zu Mobilisierungsthemen in Wahlkämpfen. Die letzte Welle haben wir letztes Jahr erlebt.
Bereits vorher hatte Fraktionschef Friedrich Merz als konservativ-kulturelle Ergänzung zum neoliberalen Programm eine «deutsche Leitkultur» eingefordert. Die Beinahe-Wahlniederlage von 2005 brachte Merkel und die Parteimehrheit dazu, fortan im Ungefähren zu bleiben («auf Sicht fahren») und die Konservativen in der Partei rechts liegen zu lassen, was einige als «Sozialdemokratisierung der Union» geißeln. Letztlich kann dieses Konzept natürlich seine geistige Leere nicht verdecken. Vor allem die Wirtschaftkrise 2008/09 verschärfte auch die ideologische Krise: Die Gewissheiten über den «ehrbaren Kapitalisten» gingen den Bach runter. «Der Konservatismus scheint unbestimmt und heimatlos wie nie», fasst Biebricher seine Analyse zusammen.

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