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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2019
Selbsthilfe und Schutz
von Manfred Walz*

Die modernen Genossenschaften sind Anfang bis Mitte des 19.Jahrhunderts als Schutzgemeinschaften gegen Not und Ausbeutung entstanden.
Eine Ursache für die Entstehung der modernen Genossenschaften war der Zustrom der Bevölkerung in die Städte, der zu einer starken Verdichtung der Belegung in den vorhandenen Wohnungen und allem, was ein Dach hatte, führte. Die neue Gewerbefreiheit, die das traditionelle Handwerk gefährdete, führte zu Beginn der Industrialisierung zu einem Überangebot an Handwerkern. Sie war zugleich von steigender Massenproduktion begleitet.
Eine andere Ursache war auf dem Land die Freistellung der kleinen Landwirte von Grund und Boden im Anschluss an die Ablösung des feudalen Grundbesitzes im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen. Zwar hatten die Reformen zur Bauernbefreiung geführt. Doch hatten die bis dahin gutsuntertänigen Bauern im Osten große Teile ihres Landes an die «Krautjunker» abgeben müssen, im Westen waren die Naturalabgaben durch langfristig zu tilgende Geldrenten abgelöst worden.
In der Stadt und auf dem Land entstand eine Vielzahl von Genossenschaften. Als erste gilt die Baumwollspinnerei in New Lanark von Robert Owen, gegründet 1799 in Schottland. Erste Modelle in Deutschland waren deutlich später: neben kleinen, an Produktion orientierten, und Wohnungsbaugenossenschaften war es Friedrich Wilhelm Raiffeisen 1847, dessen kreditgenossenschaftlicher Ansatz der Bank bis heute existiert. Zu gleicher Zeit startete Schultze-Delitzsch eine «Rohstoff­assoziation» für Tischler und Schumacher und 1850 einen gemeinnützigen «Vorschußverein». In den 1850er Jahren verbanden sich Handwerker und Arbeiter zu einer Konsumgenossenschaft in Sachsen. Schließlich nahm ab den 1860er Jahren die sich formierende Arbeiterbewegung mit Ferdinand Lassalle die Genossenschaftsidee auf, die dann in den 1890ern zu einer Gründungswelle sozialistischer Genossenschaften führte.

Selbstorganisation
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der neu gegründeten Genossenschaften ab 1918 auf mehr als 2000 im Jahr, bis zum Eintritt der Hyperinflation 1923 auf 5000 (!) jährlich, um dann bis 1933 wieder unter 2000 pro Jahr zu fallen. In der Zeit bis 1925 waren es vor allem gewerbliche und ländliche Bankgenossenschaften, ihr Anteil lag zu Jahresanfang 1925 bei rund 13 Prozent, die Produktivgenossenschaften kamen auf knapp 10 Prozent. Die Konsum- und Baugenossenschaften machten zu diesem Zeitpunkt 4,6 bzw. 7,3 Prozent aller deutschen Genossenschaften aus.
Schon sehr bald nach dem Beginn der Hitlerdiktatur, im Juli 1933, wurden Vorstand und Geschäftsführung der Genossenschaften mit dem «Gesetz zur Sicherung der Gemeinnützigkeit Wohnungswesen» überprüft und auf das «Führerprinzip gleichgeschaltet», ihr Geschäftsfeld wurde auf Kleinwohnungen, die neue NS-wohnungspolitische Orientierung festgelegt.
Nach dem Ende des NS-Staates galten das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG) und die Durchführungsverordnung zunächst in ihren Fassungen von 1940 unverändert weiter. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang die Behauptung des Kommentars zum WGG von 1988, «dass zwar das WGG aus dem Jahr 1940 stammt, dass aber dieses Gesetz nicht mit der Blut-und-Boden-Ideologie überfrachtet wurde».

Die Abkehr von der Gemeinnützigkeit
Im folgenden gehen wir nur noch auf die Wohnungsbaugenossenschaften in den Städten ein, da in Stadt- und Mietpreisentwicklung seit 1988 dramatische Entwicklungen stattfinden.
1988 wurde die Wohnungsgemeinnützigkeit aufgehoben und der Verkauf sozialorientierter und kommunaler Wohnungen der Gemeinnützigen Wohnungsunternehmen (GWU) eingeleitet – er treibt bis heute, verbunden mit dem spekulativem Finanzsektor, die dramatischen Mietsteigerungen in den Städten ab 100000 Einwohnern an. 1988 gab es noch 3,33 Millionen Wohnungen, die 10–30 Prozent unter der Marktmiete lagen. Heute gibt es keine gemeinnützigen Wohnungen mehr.
Was können Genossenschaften heute gegen die Wohnungsnot tun? Grund und Boden haben dabei eine Schlüsselposition. Wir können auch von einem «Frühwarnsystem» für das Wirtschaftssystem sprechen. Die Wohnung in den Ballungsräumen verliert immer deutlicher ihren Charakter als Gebrauchswert, in steigendem Maß wird sie Tauschwert mit Mietsteigerungen seit 2008 in München um 80 Prozent, in Berlin um 50, in Düsseldorf und Frankfurt um 30–40 Prozent.
Angesichts dieser dramatischen Zuspitzung in den Städten ist ein Kurieren an den Miethöhen und ihren Verdrängungseffekten nicht mehr sinnvoll. Es geht um einen Neuanfang. Die Verfügung über Grund und Boden ist immer deutlicher ins Kapitalsystem integriert worden. Es wird Zeit, dass die «soziale Stadt» sowohl in bezug auf die Lebensqualität wie auf die Ökonomie als Konzept wieder erkennbar wird. Es ist an der Zeit, dass die Bodenfrage thematisiert wird. Dazu können Genossenschaften einen Beitrag leisten.

* Der Autor ist Stadtplaner, Mitglied im wohnbund, Mitbegründer der Dachgenossenschaft-NW und wohnt in einer Wohngenossenschaft. Von ihm ist erschienen: Wohnungsbau- und Industrieansiedlungspolitik in Deutschland 1933–1939 (Frankfurt am Main, New York 1979).

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