von Ingo Schmidt
Es ist noch nicht so lange her, da zweifelten viele auf der Linken an ihrer Existenzberechtigung. Anderswo riefen Wirtschaftskrise und Aufschwung der neuen Rechten die Linke zum Kampf.
In Deutschland gab es einen XXL-Aufschwung, die AfD war eine skurrile Professorenpartei und vereinzelte Neonazis ein Fall für Sozialarbeiter. Doch dann trieben die Flüchtlinge einen Keil in Merkels Wohlfühldeutschland. Innerhalb weniger Monate war das Land in Flüchtlingsfreunde und -feinde gespalten. Die AfD verstand es, sich als Auffangbecken aller Flüchtlingsfeinde neu zu erfinden. Der Erfolg ihrer Sammlungsbewegung bewirkte einen massiven Rechtsruck bei den Konservativen und tiefe Verunsicherung bei den Sozialdemokraten. Die Grünen konnten sich als parteipolitischer Arm der Willkommenskultur profilieren.
In der Linken brach ein Kampf dreier Linien aus: Den einen gilt die Forderung nach offenen Grenzen als Gegenpol zur Abschottungspolitik der AfD, andere sehen eine Alternative in der Verteidigung des Sozialstaats gegen den Zugriff des globalen Kapitals. Eine dritte Linie trachtet danach, soziale Auseinandersetzungen in verschiedenen Sektoren zu einer neuen Klassenpolitik zu bündeln.
Dieser Kampf wird im Ton oft sehr verbittert und in der Sache wohl auch mit Blick auf künftige Kandidaturen und Posten geführt. Als Alternative zu Marktradikalen und neuen Rechten wird DIE LINKE derzeit nicht wahrgenommen.
Grenzen öffnen
Die Forderung nach offenen Grenzen wird zumeist als eine Art Wiedergutmachung präsentiert. Da sich der Norden auf Kosten des Südens bereichere, sei es nur recht und billig, dass diejenigen, die dem Elend im Süden entkommen, Zuflucht im reichen Norden finden.
Die Ausplünderung des Südens durch den Norden war schon zu Zeiten der Neuen Linken in den 70er Jahren Gegenstand politischer Linienkämpfe. Doch damals ging es im Süden darum, der gerade errungenen Unabhängigkeit von den alten Kolonialmächten eine wirtschaftliche Grundlage zu verschaffen, die eine neokoloniale Vereinnahmung durch den Norden verhindern sollte. Im Süden erzeugte Überschüsse, die sich bislang in koloniale Profite verwandelt hatten, sollten künftig der Industrialisierung des Südens dienen. Auf diese Weise sollte ihre Abhängigkeit von Industrieimporten überwunden werden, deren Bezahlung immer umfangreichere Rohstoff- und Agrarexporte erforderte.
Der innerlinke Streit im Norden ging um die Frage, wie sich das Austrocknen der kolonialen Profite auswirken würde. Manche hatten die Arbeiterklasse als hoffnungslos verbürgerlicht abgeschrieben und sahen sich als Vorposten der antiimperialistischen Bewegungen des Südens. Ob diese Verbürgerlichung das Ende der kolonialen Ausbeutung überleben und eine Linke, die die lohnabhängige Bevölkerungsmehrheit in ihren Heimatländern ignoriert oder gar zum Feind erklärt, eine durchsetzungsfähige Kraft werden könne, interessierte diese Strömung nicht.
Andere sahen mit der kolonialen Ausbeutung auch das arbeiteraristokratische Leben zu Ende gehen. Nach dem Wegfall der kolonialen Profite würden sich die Kapitalisten an der heimischen Arbeiterklasse schadlos halten, die Klassengegensätze würden wieder zutage treten und die Linke könnte endlich das revolutionäre Erbe der 20er und 30er Jahre antreten. Allerdings gab es auch skeptische Linke, die einen Aufschwung der Rechten als Folge wirtschaftlicher Verelendung erwarteten.
Heute gilt es vielen Befürwortern offener Grenzen als ausgemacht, dass Arbeiter rechts stehen. Der Grund dafür liege jedoch nicht in ihrer Verelendung, sondern in ihrem Bemühen, ihren Anteil an der neokolonialen Ausbeutung zu verteidigen. Die empirische Feststellung, dass einstmals links wählende Arbeiter zur Rechten übergelaufen sind und rechtes Gedankengut auch unter Gewerkschaftsmitgliedern Zustimmung findet, gilt als Beleg für die These «Arbeiter sind rechts». Der bloße Versuch, unter Arbeitern für die linke Sache zu werben, auch unter solchen, die schon mal AfD gewählt oder einen rassistischen Witz erzählt haben, gilt dieser Strömung als verdächtig.
Anders als zu Zeiten der Neuen Linken sind die Verdammten dieser Erde allerdings nicht mehr dazu auserkoren, eine bessere Welt zu schaffen. Sie sind nur noch Opfer. Wer es bis an die Grenzen des Nordens schafft, hat Recht auf Einlass. Wer sich gar nicht erst auf den Weg macht, ist zu lebenslanger Überausbeutung oder einem Bettlerdasein in den Slums des Südens verdammt. Der Neokolonialismus wird als bedauernswerte, aber leider nicht zu ändernde Tatsache hingenommen. Die linke Willkommenskultur durchzieht ein resignativer Grundton.
Sozialstaat verteidigen
Den teilt sie mit den Verteidigern des Sozialstaats. Auch denen fehlt die Vision einer neuen Welt, für die es zu kämpfen lohnt. Wenn sich die Befürworter offener Grenzen wenig für die Verteilungsverhältnisse in den Ländern des Nordens interessieren, interessieren sich Sozialstaatsverteidiger wenig für globale Ungleichheiten. Ihnen gilt der Aufschwung der Rechten als Folge der Umverteilung innerhalb der Länder des Nordens. Diese wurde möglich, weil linke Parteien die Verteidigung des Sozialstaats zugunsten der Unterstützung der neoliberalen Globalisierung aufgegeben haben. Unkontrollierte Zuwanderung würde die Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen unter den Globalisierungsverlierern verschärfen und den Aufschwung der Rechten weiter anheizen. Statt öffentlichkeitswirksam offene Grenzen zu fordern sollte die Linke lieber eine Bewegung für den Sozialstaat aufbauen.
Die Gegenüberstellung von Globalisierungsverlierern und -gewinnern, die dieser Argumentation zugrunde liegt, erinnert in vieler Hinsicht an die 80er Jahre, als auf der Linken über die zunehmende Ungleichheit zwischen Modernisierungsverlierern und -gewinnern debattiert wurde. Damals ging es um Rationalisierung, heute um Standortverlagerungen. In beiden Fällen wurden den vielen Verlierern, zumeist Arbeiter in der Schwer- und Fertigungsindustrie, die wenigen Gewinner, oft als Wissensarbeiter tituliert, gegenübergestellt. Die Verlierer haben etwas mit den Flüchtlingen im Bild der Grenzöffner gemeinsam: Auch sie sind Opfer, nicht Vorkämpfer einer besseren Zukunft.
Das Bild, das die Sozialstaatsverteidiger von den Globalisierungsgewinnern zeichnen, ist dagegen allzu stark von der Selbstdarstellung einer kosmopolitischen Elite geprägt. Tatsächlich sind aber keineswegs alle, die mit einem Computer arbeiten, Globalisierungsgewinner. Viele, wenn nicht die Mehrheit unter ihnen, haben schlecht bezahlte und unsichere Jobs. Dies gilt auch für die vielen Produktions-, Lager- und Transportarbeiter mit ihren computerüberwachten Jobs entlang globaler Wertschöpfungsketten.
Zudem übergeht die Gegenüberstellung von untergehenden Schlotindustrien im Norden und der Entstehung einer kosmopolitischen Elite wichtige Aspekte heutiger Arbeitswelten. Infolge des Produktivitätswachstums sind im Norden zwar die Beschäftigtenzahlen in den massiv gesunken, nicht aber das Volumen der industriellen Produktion. In einigen Ländern des Südens sind neue Schlot- und Hightech-Industrien entstanden. Zudem hat das Eindringen des Kapitals in alle Lebensbereiche zu vielen, allerdings stark im Norden konzentrierten, neue Jobs in den Bereichen Erziehung und Pflege geschaffen bzw. unbezahlte Hausarbeit in schlecht bezahlte Lohnarbeit umgewandelt.
Klassenkämpfe verbinden
Einer dritten Strömung ist wohl bewusst, dass sich die Wirklichkeit weder auf ein «Der Norden lebt auf Kosten des Südens», noch auf eine Gegenüberstellung von Globalisierungsverlierern und -gewinnern reduzieren lässt. Von der Vielgestaltigkeit der Arbeit ausgehend versucht sie, Konflikte in verschiedenen Arbeits- und Lebensbereichen miteinander zu verbinden und so eine über einzelne Bereiche hinausgehende Gegenmacht aufzubauen.
Allerdings enden die Vorstellungen über eine verbindende Klassenpolitik dann doch meist an den Landesgrenzen. Sie sollen für Flüchtlinge zwar durchlässig sein. Der Frage, ob Klassenpolitik auch jenseits oder über Grenzen hinweg vorstellbar ist, wird jedoch kaum nachgegangen. Das neokoloniale Elend im Süden und der Sozialabbau im Norden existieren in Parallelwelten, die bestenfalls über Flüchtlingsströme miteinander verbunden sind.
Dass die kapitalistische Welt durch unterschiedlich mächtige bzw. oftmals auch ohnmächtige Nationalstaaten strukturiert wird, bleibt außerhalb des strategischen Horizonts. Deswegen bleiben auch entscheidende Widersprüche, denen eine neue Klassenpolitik sich gegenübersieht, unbeachtet.
Dies gilt insbesondere für den Widerspruch zwischen großen Kapitalgruppen, die grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten organisieren, um Belegschaften in verschiedenen Ländern gegeneinander auszuspielen, und öffentlichen Sektoren, deren Beschäftigte von der Fähigkeit zur Steuereintreibung im jeweiligen Heimatland abhängig ist. Zwischen diesen beiden Polen zerreiben sich kleine Kapitale, die als Subunternehmer der Multis um ihre Profitmargen oft ebenso geprellt werden wie Arbeiter um ihre Löhne, oder als lokal operierende Unternehmen von der Massenkaufkraft in ihrer Region bzw. öffentlichen Aufträgen abhängig sind.
Hieraus ergibt sich eine Gemengelage, die vielerlei (sich überschneidende aber auch widersprechende) Selbsteinschätzungen als Arbeiter, Inländer, Ausländer, Globalisierungsgewinner oder -verlierer zulässt. Aus diesen Selbsteinschätzungen können rechtsgerichtete Blöcke ebenso entstehen wie eine linke Klassenpolitik.
Was in den bislang diskutierten Ansätzen in Richtung einer solchen Klassenpolitik fehlt, ist «das Verbindende». Zwar gibt es einiges an soziologischer Bestandsaufnahme. Aus der Kenntnis über Arbeits- und Lebensbedingungen in verschiedenen Segmenten des «Gesamtarbeiters» entsteht jedoch weder automatisch ein gemeinsames Klassenbewusstsein, noch kann dieses von wissenschaftlich aufgeklärten Aktivisten in die Klasse hineingetragen werden. Es kann nur aus dem Dialog zwischen Beschäftigten der verschiedenen Bereiche und Aktivisten entstehen – aus einer, altmodisch ausgedrückt, proletarischen Gegenöffentlichkeit. Diese würde es auch erlauben, sich auf die notwendigen Organisationsformen zur Durchsetzung der als gemeinsam erachteten Interessen zu verständigen – auf lokaler, nationalstaatlicher, aber vor allem auch auf internationaler Ebene.
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