Interview mit João Pedro Stédile
Jair Bolsonaro, der neugewählte Präsident Brasiliens, und der neue Kongress, der mehrheitlich rechts bis extrem rechts zusammengesetzt ist, haben in den wenigen Wochen seit der Wahl das Land schön gehörig umgekrempelt. Gleichzeitig setzt ein Konglomerat aus rechtsextremen Gruppierungen, fundamentalistischen Evangelikalen, militärischen Hardlinern und neoliberalen Ultras das fort, was sie in einem verlogenen und demagogischen Wahlkampf zu bekämpfen vorgaben, vor allem die Korruption. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Korruptionsskandale und deutliche Hinweise auf Verbindungen ins kriminelle Milieu bekannt werden.
Im nachstehenden Interview geht der Sprecher der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), João Pedro Stédile, auf die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung ein und beschreibt die Angriffe, die der MST drohen. Das hier stark gekürzte Interview gab er Anfang Januar 2019 dem Radiosender Brasil de Fato. (Übersetzung: Hermann Dierkes.)
Vor der Wahl hat Bolsonaro angekündigt, Paulo Guedes als Wirtschaftsminister einzusetzen. Das scheint ein Widerspruch, denn während Bolsonaro mit einem nationalistischen Diskurs daherkam, ist Guedes ein Neoliberaler. Was ist also von der kommenden Wirtschaftspolitik zu erwarten?
Die Wirtschaftspolitik der Regierung wird dem Kapital völlig freie Hand lassen. Sie brauchen die totale Liberalisierung, um die Profitraten wieder anzuheben, und dahin führt nur ein Weg, nämlich die erhöhte Ausbeutung der Arbeitenden. Selbst wenn die Wirtschaft wieder um 2–3 Prozent wachsen sollte, wovon sie reden, wird sich das Wachstum auf die großen Konzerne, die Exporte und das Finanzkapital konzentrieren. Es wird keine nennenswerte Steigerung der Beschäftigung mit sich bringen, keine Einkommenssteigerung und keine Lösung der wirtschaftlichen Probleme der Bevölkerung.
Von öffentlichem Interesse war auch ein anderer Aspekt in der Antrittsrede von Paulo Guedes. Darin offenbarte er, das größte Problem des brasilianischen Staates bestehe darin, dass die Banken die nationalen Reserven kapern und die Rentiers – zu denen er selbst gehört – 400 Mrd. Reais (etwa 94 Mrd. Euro) pro Jahr herausholen. Nun, er hat das angeprangert, aber kein Wort darüber verloren, wie er das Problem lösen will, weil das an den Grundfesten der Regierung Bolsonaro rütteln würde. Schließlich stützt sie sich auf das Finanzkapital, also auf genau diese Rentiers im Agrobusiness und auf die ausländischen Konzerne, insbesondere die US-amerikanischen.
Beim Thema Sozialrenten hat derselbe Guedes genau entgegengesetzt argumentiert und behauptet, der einzige Ausweg bestehe darin, sie zu privatisieren – also private Rentenfonds zu schaffen, in dem die Banken das Sagen haben und sich die Ersparnisse der Beschäftigten mit höheren Einkommen aneignen werden, seien es Universitätsprofessoren, Bankangestellte oder Arbeiter der Erdölindustrie, die sich eine Zusatzrente verschaffen wollen. Wenn 10 Millionen Beschäftigte der höheren Einkommensgruppen also demnächst anfangen, monatlich 200 Reais in eine private Rentenversicherung einzuzahlen, dann stibitzen die Banken jeden Monat 20 Mrd. Reais mit dem Versprechen, sie den Einzahlenden nach 30 Jahren in Form einer Zusatzrente zurückzuzahlen. Aber Gott weiss was in den kommenden 30 Jahren alles passieren wird! Wenn es so kommt wie in Chile, dann geben sie vor, in Schwierigkeiten geraten zu sein, dann sind die Fonds zusammengebrochen und die Rentner bekommen im äußersten Fall gar nichts mehr zurück.
Wir dürfen den Kern der Sache nicht übersehen: Die privaten Fonds nehmen die Ersparnisse der Beschäftigten ein und zahlen dafür keinerlei Zinsen. Die Beitragszahlenden müssen 10, 20 und mehr Jahre warten, bis sie ihr Geld in Raten zurückbekommen, aber in dieser Zeit nutzt die Bank das Geld, um damit zu spekulieren oder was ihr sonst in den Sinn kommt.
Gleichzeitig hat Guedes eingeräumt, dass einer der Gründe für das Defizit der Rentenkasse nicht die Armen sind, nicht die Arbeitenden, nicht meine Mutter, die sich nur mit einer Rente aus dem Landwirtschaftsfonds auf der Basis des Mindestlohns zur Ruhe setzen konnte, sondern die Privilegierten. Denn wer ist es, der ein Monatseinkommen von 28000 Reais hat und dies auch als Rentner weiter bezieht? Ein General des Heeres. Es sind die Richter, die ihre 35000 Reais auch als Rentner behalten.
Letztes Jahr war ich mit einer Delegation beim Gouverneur von Rio. Wir wollten das Maracanã-Stadion für eine große Volksversammlung anmieten. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir, dass sein größtes Problem mit der Rentenkasse in Rio de Janeiro darin besteht, dass 50 Prozent der öffentlichen Mittel, die für die Innere Sicherheit aufgebracht werden, für die Offiziere der Militärpolizei draufgehen, die mit 50 in Rente gehen und monatlich 25000 bis 30000 Reais erhalten. Da wird niemand dran rühren, denn die Regierung Bolsonaro hat ihre soziale Basis bei den Militärs, in der Militärpolizei und im Justizapparat, den der neue Justizminister Moro repräsentiert.
Wie beurteilst du die Ernennung von Richter Sérgio Moro zum Justizminister?
Das ist ein Hohn. er hat angekündigt, dass er ein bundesweites und permanentes Lava Jato¹ einführen will. Es wird sich aber nicht gegen die wirklich Korrupten richten, sondern gegen die kleinen Fische. Eine zweifelhafte Gesetzgebung erlaubt Unternehmen in Brasilien, an Parteien zu spenden, womit sie diese an sich binden. Die dicksten Unternehmensspenden haben in der Vergangenheit die PP, die DEM, die PMDB usw. eingesackt – die PT war da Schlusslicht. Leider hatte die PT nicht den Mut, die Bevölkerung darauf hinzuweisen, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Korruption, die sich öffentliche Gelder aneignet, und einer Korruption, mittels derer Unternehmen sich den Staat gefügig machen.
Die MST wurde vom Präsidenten unmittelbar ins Visier genommen. Wie bereitet ihr euch auf die angekündigte Kampagne zu ihrer Kriminalisierung vor?
Bolsonaro hat im Wahlkampf offen Hass und Gewalt gegen alle angeheizt, die für soziale Verbesserungen kämpfen – gegen die Linke insgesamt, nicht nur gegen die MST. Aber an der MST wird – vielleicht weil sie am bekanntesten ist – eine Art Exempel statuiert, wen die neue Regierung als ihren Feind betrachtet.
Doch das jagt uns keine Angst ein. Ich gehe davon aus, dass alle Aktiven der MST sich darüber im klaren sind, dass Vorsicht geboten ist, um sich nicht unnötig der Hasspropaganda auszusetzen. Wer sich im sozialen Kampf engagiert, darf aber keine Angst haben. Wir müssen mit Verfolgung rechnen, schon seit 34 Jahren muss unsere Bewegung für ihren Kampf teuer bezahlen. Wir sind wahrscheinlich die Bewegung, die am meisten von Mordanschlägen, Folter und Gefängnis betroffen ist. Das hat uns nie abgeschreckt.
Wir müssen unsere Basisarbeit und die politische Bildung verstärken, das gilt auch für die gesamte Linke. Sie kann sich nur retten, wenn es ihr gelingt, die armen Schichten der Arbeiterklasse an der Peripherie der großen Städte zu organisieren.
Was wird jetzt mit der Agrarreform?
Nichts. Schon in den beiden letzten Jahren der PT-Regierung gab es da keine Fortschritte mehr – auch nicht in der öffentlichen Unterstützung der Bauern. Jetzt aber kommen Dekrete, die sich direkt gegen die Bauernschaft und gegen die Landreform richten. Es wird eine Kapitaloffensive gegen die Bauernschaft geben. Es wird eine Offensive gegen die Indio-Völker und die Quilombolas² geben. Dem Agrobusiness und dem Bergbau will man neue Reserven öffnen. Und es ist sicher, dass man keine neuen Schutzgebiete mehr ausweisen wird. All dies steckt voller Zündstoff. Wir haben immer noch rd. 23 Millionen Arbeiter im Innern Brasiliens, Bauern ohne Land, landwirtschaftlich tätige Familien, Quilombola-Bewohner, Tagelöhner usw. Dieser Teil der Bevölkerung wird besonders leiden und er wird reagieren. Wir werden uns jedenfalls nicht damit begnügen, die perverse Politik dieser Regierung zu kommentieren.
¹Wörtlich: Autowäsche. Gemeint ist die seit Jahren laufende Antikorruptionskampagne der Rechten, die sich vor allem auf Lula und die PT konzentriert.
²Traditionelle Ansiedlungen von entlaufenen Sklaven im Innern Brasiliens.
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