von Johann-Friedrich Anders
Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers. Eine kritische Arbeitsgeschichte von der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart. Wien: Mandelbaum, 2018. 344 S., 25 Euro
Was passiert mit den Körpern und der Psyche der Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Arbeit in der kapitalistisch verfassten Industrie und im Dienstleistungsgewerbe? Wie erleben sie den Arbeitsprozess? Hat sich der Charakter der Arbeit im Lauf der Geschichte des Kapitalismus verändert? Wieweit ist der Arbeitsschutz, genauer: der Arbeiter- und Arbeiterinnenschutz, entwickelt?
Solche Fragen werden nur selten gestellt und noch seltener beantwortet. Einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Beantwortung liefert der Bremer Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler Wolfgang Hien mit seinem neuen Buch. Hiens Untersuchung ist eine Sozialgeschichte der modernen Arbeitswelt, der Arbeitsbelastungen, der Arbeitserkrankungen und des Widerstands gegen die Arbeit – beginnend ab der Mitte der 1870er Jahre bis in die unmittelbare Gegenwart. Hien schreibt keine Institutionengeschichte, sondern eine Geschichte des Arbeitsalltags «von unten».
Hien schreibt: «Dass Fabrikarbeit viel mit Dreck, Staub und Gestank zu tun hatte, war von Anbeginn der Industrialisierung – quer durch alle Klassen und Schichten – unbestritten. Die Unternehmerseite lud diese Feststellung freilich – und darin bestand der spezifische Unterschied zu einer kritischen Sicht – mit der ideologischen Behauptung auf, dass Dreck, Staub und Gestank ‹naturnotwendig› und Arbeiter/innen ‹von Natur aus› dazu bestimmt seien, ihren Körper diesen unvermeidbar gegebenen Bedingungen zu unterwerfen. Die chemische Industrie komplettierte diese Bedingungen, indem sie zu all dem noch Gifte hinzufügte, d.h. synthetische Chemikalien, die entweder akut oder chronisch sowohl die Gesundheit der Chemiearbeiter selbst als auch jener Arbeiter/innen schädigte, die in der Weiterverarbeitung – beispielsweise Farben- und Lackindustrie, Kunststoffindustrie und Textilindustrie – ihr Brot verdienen mussten.»
Die «Wirtschaftswunder»-Zeit etwa war, so Hien, «nicht nur auf Schweiß und Gefahr, sondern auf kontinuierliche Missachtung, ja: Verachtung des menschlichen Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gebaut. Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz blieb ein Fremdwort». «Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle stieg 1960 in Westdeutschland auf mehr als 5000, in Ostdeutschland lag sie bei knapp 1000, in Österreich bei mehr als 600. Im ‹Wirtschaftswunder› erklomm der körperliche Verschleiß ein der Hochindustrialisierung vergleichbares Niveau. Ein Drittel der Erwerbstätigen verstarb vor dem Erreichen der Rentengrenze, mehr als ein Drittel wurde frühinvalide, und weniger als ein Drittel – und das waren fast nur höhere Angestelltenberufe – erreichte halbwegs gesund das gesetzliche Rentenalter.»
Schafft der technische Fortschritt schwere körperliche Arbeit langsam ab? Davon kann laut Hien keine Rede sein: Zwar wurden sehr schwere, umständliche und lebensgefährliche Arbeitsschritte nach und nach von Maschinen übernommen, doch blieb eine Vielzahl von Mechanisierungslücken. Die Hoffnung, die Mühsal schwerer körperlicher Arbeit werde verschwinden, hat sich – wie Hien zeigt – nicht erfüllt: Heute wird nach wie vor körperlich schwer gearbeitet, weltweit mehr denn je.
Gibt es eine zunehmende «Humanisierung des Arbeitslebens»? Auch davon kann laut Hien keine Rede sein:
«Entgegen vollmundiger Proklamationen der Industrieverbände wird der Mensch als Lückenbüßer der Technik eingesetzt. Prinzipiell könnten Montageinseln vom Menschen gesteuert werden, sodass eine dem/der jeweiligen Arbeitenden angepasste Arbeitsstruktur und Arbeitsgeschwindigkeit, d.h. auch die Beschäftigung älterer und gesundheitlich eingeschränkter Menschen, möglich wäre. Doch die kapitalistische Wirklichkeit verkehrt dieses Verhältnis ins Gegenteil. Zentral gesteuerte Roboter geben Arbeitsschritte und Arbeitsgeschwindigkeit vor. Die vom Menschen zu absolvierenden Tätigkeiten bestehen aus Handreichungen.»
Von der Würde des Menschen
Hien erinnert an einer Stelle seines Buches an Immanuel Kant, der zu Beginn der Industrialisierung zwischen Wert und Würde des Menschen unterschied: Der Wert menschlichen Lebens wird als monetär messbares Arbeitspotenzial begriffen; die Würde dagegen ist unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit. Hien: «Die Würde wird als Begriff wie als reales Faktum vom Neoliberalismus komplett preisgegeben.»
Detailliert stellt Hien die Rolle der Arbeitsmediziner beim Arbeitsschutz dar: Im Vordergrund stand und steht für die Arbeitsmedizin die körperliche Produktivität der Arbeiter/innen, die es zu steigern gilt. Krankheiten werden von Arbeitsmedizinern von ihren gesellschaftlichen Ursachen getrennt, «soziale Probleme werden therapeutisiert und medikalisiert». Krankheit wird von ihnen in persönliche Schwäche, Versagen oder Schuld umgedeutet. «Der entfremdete, leidende und sich nach Befreiung sehnende Mensch, die Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen, in denen Arbeit stattfindet, zu schweigen von der Frage nach der Befreiung von aller entfremdeten Arbeit, findet kaum einen Platz in den Arbeitswissenschaften.»
«Es dauerte fast hundert Jahre, bis sich Arbeitsmedizin und Lungenheilkunde dazu durchrangen, das Lungenemphysem bei Bergleuten als Berufskrankheit anzuerkennen», obwohl etwa seit dem Ende des 19.Jahrhunderts bekannt war, «dass die Häufigkeit des Lungenemphysems bei Bergleuten mit den Jahren zunimmt und bei den ‹Alten› eine Quote von 69 Prozent erreicht.» Interessant ist der Zeitpunkt der Anerkennung: «Er fällt recht genau mit dem politischen Beschluss zusammen, die Kohlengewinnung in Deutschland einzustellen.»
Zwei kritische Anmerkungen scheinen mir angebracht:
Nicht völlig überzeugend finde ich Hiens Ausführungen über die Rolle der Bürokratie in der Arbeiterbewegung. Hier neigt Hien zu pauschal negativen Urteilen. So handeln laut Hiens Darstellungen Arbeiter/innen, wenn sie aufbegehren, «regelmäßig gegen den Willen der Gewerkschaftsführungen». Doch Belege für die Berechtigung seiner Verallgemeinerung «regelmäßig» liefert Hien nur selten. Oder er schreibt: «Die Sozialdemokratie beobachtete die Entwicklung dieser neuen Industrie (der Chemieindustrie) mit Sorge und war bestrebt, im ‹ungelernten› Proletariat Fuß zu fassen, auch um diese wachsenden Massen in das Gefüge der sozialen und politischen Kontrolle einzugliedern.» Eine derartige Kontrollabsicht zu belegen, bemüht Hien sich nicht.
Leider gibt es kein Literaturverzeichnis. Doch das ist nur ein geringfügiger Mangel, der nichts daran ändert, dass Hiens Studie ein ganz wichtiges Buch über die kapitalistische Arbeitswelt ist.
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