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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2019
Wie sich die Beziehungen zwischen beiden Mächten seit den 90er Jahren gewandelt haben
von Susan Watkins

Wachsende Spannungen zwischen Washington und Peking sind noch kein neuer Kalter Krieg. Aber sie zeigen einen bedeutenden Wandel in der Politik der USA an. Seit den 1990er Jahren betonten diese die Kooperation, wenngleich gestützt auf militärische Macht. Ein Ausdruck davon waren die Einfädelung von Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) und die Garantie seiner Dollarguthaben auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. Heute droht Washington mit einem Zollkrieg und weist NATO-Mitglieder an, die marktführende 5G-Technologie der VR China zu boykottieren.

Der jüngste Bericht zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA ordnet China zusammen mit Russland als «revisionistische Macht» ein. Die USA hätten gehofft, dass China durch seine Integration in die internationale Ordnung liberalisiert würde, erklärt das Dokument. Stattdessen habe die Volksrepublik versucht, die Reichweite seines «staatlich getriebenen Wirtschaftsmodells» auszudehnen. Sie wolle die USA als «Schutzmacht» im westlichen Pazifik ersetzen und die Region in ihrem Interesse neu ordnen.
Das Dokument leistet auch Selbskritik. Als einzige Supermacht nach dem Kalten Krieg sei Washington zu selbstgefällig gewesen. «Wir nahmen an, dass unsere militärische Überlegenheit sicher und ein demokratischer Frieden unvermeidlich war. Wir glaubten, dass die liberal-demokratische Ausdehnung und Integration den Charakter der internationalen Beziehungen fundamental ändern und der Wettbewerb den Weg frei machen würde für eine friedliche Kooperation.» Stattdessen ist eine neue Ära der «Konkurrenz von Großmächten» angebrochen – mit einem Zusammenstoß von «freien und repressiven Visionen einer Weltordnung».
Obwohl die härtere amerikanische Haltung breite Unterstützung über die Parteigrenzen hinaus genießt, ist die Wall Street nervös. Robert Rubin sagt den Lesern der New York Times, dass man China nicht einfach anweisen könne, sein Wirtschaftsmodell zu ändern, wenngleich es erkennen sollte, dass einige Folgen seines Systems für die USA unakzeptabel sind. Martin Wolf schreibt in der Financial Times, der richtige Weg sei, China sowohl als «Freund wie als Feind» zu behandeln.
Doch die liberalen Medien haben die neue Linie weitgehend unterstützt. «Trump hatte recht, Druck zu machen», erklärt die New York Times. Der Economist stimmt zu: «Amerika muss stark sein. Trumps Bereitschaft anzugreifen, kann effektiv sein.» Ein Leitartikel in Foreign Affairs fasst die Vorwürfe zusammen: China strebt nach «völliger Dominanz» in der indopazifischen Region, wo es der «unangefochtene politische, ökonomische und militärische Hegemon» sein will.
Peking war in der Lage, in seinen Beziehungen zu den von den USA geprägten, globalen Institutionen – UNO, Weltbank, WTO – wählerisch zu sein, und hat sich Unterstützung in Regionen aufgebaut, in denen die USA relativ abwesend waren: Afrika, Zentralasien, Iran, Sudan, Nordkorea. Peking hat das US-System der Allianzen in Asien untergraben: Die Philippinen wurden ermutigt, sich von Washington zu distanzieren, Seouls Öffnung gegenüber Pyongyang wurde unterstützt und auch Japans Haltung gegenüber den US-Zöllen. Amerika sollte darauf hoffen, seine Vorrangstellung in Asien mit Mitteln der friedlichen Konkurrenz zu erhalten, es sollte sich jedoch auch auf die Anwendung militärischer Gewalt gefasst machen.

Wie ernst ist der Antagonismus zwischen den beiden Großmächten und worin besteht seine Logik?
Die strukturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern sind kompliziert, nicht nur wegen ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, sondern auch wegen der Ungleichgewichte zwischen ihnen – sie sind gleichzeitig «Freunde», also finanzielle und ökonomische Partner, als auch als «Feinde». Asymmetrisch sind nicht nur ihre Größe, ihr Reichtum, ihre Macht und ihre politischen Modelle, sondern auch ihre Ziele.
In der letzten Phase der Großmachtkonkurrenz [vor dem Ersten Weltkrieg] gehörten die Protagonisten zur selben Art: Es waren fortgeschrittene industriell-kapitalistische Nationalstaaten, die in einem ungleichen Rhythmus und mit ungleichen Überseebesitzungen expandierten. Im aktuellen Fall sind beide einzigartige Gebilde, die auf der Erde ihresgleichen nicht haben und hatten. Das eine ist eine global agierende Supermacht des freien Markts, das andere ein auf die Bauernschaft gestützter «kommunistischer» Staat, der dreißig Jahre kapitalistisches Hochgeschwindigkeitswachstum hinter sich hat.
Auch die Sowjetunion war ein einzigartiges Gebilde. Aber die UdSSR gründete sich auf die Negation des kapitalistischen Systems – auf seinem Gegenteil, wie Lenin sagte. Ebenso die VR China. Nun ist China ist der dynamischste Teil dieses Systems geworden, der dem atlantischen Kapital hohe Erträge liefert, Billionen in Dollaranlagen investiert und Amerika mit seiner Armada von Containerschiffen, die den Pazifik durchpflügen, um die Regale Amerikas aufzufüllen, eine «große Mäßigung» bei Löhnen und Preisen ermöglicht. Die beiderseitige finanzielle und ökonomische Abhängigkeit ist nicht nur asymmetrisch – hie der arme Gläubiger, dort der reiche Schuldner –, sie betrifft auch verschiedene Ebenen mit verschiedenen Graden und Tempi und ist der Gnade der verschiedenen Währungen ausgesetzt.
Vor 2007 sahen Kommentatoren in den Handelsungleichgewichten zwischen beiden Mächten das größte Risiko für die globale wirtschaftliche Stabilität. Seitdem ist der Wert der US-Importe aus China um 57 Prozent gestiegen, während die Volksrepublik zum unersetzlichen Markt für US-Produkte aus den Bereichen Landwirtschaft, Luftfahrt und Maschinenbau geworden ist. Doch Bereiche der Symbiose kontrastieren mit verschärfter Konkurrenz in anderen Sektoren – nicht nur mit US-Unternehmen, sondern insgesamt auf den Märkten des reicheren Teils der Welt.
Im eigenen Land produzieren die beiden Ökonomien eine weitere Reihe von Widersprüchen. Die USA sind ein reifer, kontinentaler Kapitalismus, dessen Produktionssektor sein größtes Wachstum vor siebzig Jahren erreicht hat; in den letzten vierzig Jahren hatte er mit sinkenden Profitraten zu kämpfen. Die Antwort darauf waren Druck auf die Löhne, Standortverlagerungen ins Ausland, die Flucht in Anlagespekulation und Auslandsinvestitionen, die höhere Renditen versprachen. Doch während ihr Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 1945 von der Hälfte auf ein Viertel gesunken ist, konnten die USA ihre globale Führungsposition im Finanzsektor, in der Kulturproduktion und bei technologischen Innovationen ausbauen; die digitale Revolution ist selbst «made in USA». Dagegen beträgt Chinas BIP pro Kopf weniger als ein Siebtel von dem der USA, sein Anteil an der Weltproduktion beträgt 18 Prozent. Andererseits liegt das chinesische Wachstum seit drei Jahrzehnten bei durchschnittlich 10 Prozent und hat sich nur in den letzten Jahren verlangsamt.
In den USA hat sich die Produktion von Wohlstand seit den 70er Jahren allmählich von den Regionen der niedergehenden Schwerindustrie in die südlichen Bundesstaaten, vor allem in einige wenige Dutzend Regionen verlagert. Im selben Zeitraum hat sich China von einem ländlichen asiatischen Land in eine ultramoderne, urbanisierte Gesellschaft mit der zahlenmäßig größten Intelligentsia entwickelt.
China ist ein spektakulärer Fall der kombinierten Entwicklung eines Zuspätkommenden. Es ist nicht leicht, das Ursprungsland der beteiligten Faktoren zu bestimmen. China startete seinen Produktionshöhenflug in den 90er Jahren, als der Handel unter amerikanischer Führung rasch globalisiert wurde, die Zollschranken fielen oder sanken, das Investitionskapital reichlich floss und in der Logistik sich der Container durchsetzte. Dies waren Vorbedingungen für Chinas Wachstum. Anfänglich borgte sich die VR China die Formel für ihr exportgetriebenes Modell von Ostasiens «fliegenden Gänsen»; in der Anfangszeit kam viel Kapital von der regionalen chinesischen Diaspora sowie aus Hongkong, Taiwan und Japan.
China bot billige und fügsame Arbeitskräfte für Montagearbeit in dafür errichteten Sonderwirtschaftszonen und erwarb das technische Knowhow der modernen Produktion, während es Exportgewinne einstrich. Aber der Magnet, der amerikanische, japanische und europäische Firmen anzog, war «made in China»: ein gewaltiger heimischer Konsumentenmarkt, dessen ökonomische und kulturelle Fähigkeiten sich unter der Herrschaft der KP Chinas entwickelt hatten. Die Alphabetisierung der Bauern, emanzipierte weibliche Arbeitskräfte und ein bürokratisches System, das jedes Dorf erreicht und fähig ist, Infrastruktur zu organisieren und Kapitalflüsse zu kontrollieren – diese hauseigenen Faktoren sowie seine Größe unterscheiden Chinas Entwicklung von der anderer «sich industrialisierender Länder».

Die neue Weltordnung und Chinas Rolle darin
Als politisch-ökonomische Gebilde sind die beiden Länder nicht nur in unterschiedlichem Tempo gewachsen, ein jedes hat sich auch, intern wie extern, auf unterschiedliche Weise geändert.
Während des Kalten Krieges tolerierten die USA als Welthegemon in hohem Grad ökonomischen Protektionismus im eigenen Lager. Als die kommunistische Bedrohung nachließ und sich die innerkapitalistische Konkurrenz intensivierte, begann Washington, sein globales Gewicht zur Sicherung amerikanischer nationaler Interessen geltend zu machen: Nixon verkündete das Ende des Bretton-Woods-Systems der festen Wechselkurse; die Reagan-Administration drohte Japan und Deutschland, ihre Währungen neu zu bewerten, um US-Exporteuren wieder Schwung zu verleihen; die Weltbank und der Internationale Währungsfonds wurden benutzt, um krisengeschüttelte Ökonomien aufzubrechen und ihre Aktiva zum Verkauf anzubieten.
Dies waren erste Andeutungen einer neuen imperialen Ordnung, die ihre volle Gestalt annahm, als die USA als die einzige Supermacht aus der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion hervorgingen. Sie bauten ein Regime «struktureller Reformen» auf, die tief in das wirtschaftliche und politische Leben anderer Staaten eingriffen und sie für den internationalen Handel und die Finanzflüsse öffneten. Die Reformen konzentrierten sich auf die Eigentumsrechte atlantischer Firmen und Investoren, die im Ausland operierten, und befähigten sie, in anderen Ländern Kapitaleigentum zu erlangen und in die globalen Profitströme zu integrieren.
Gleichzeitig stellten die USA die zwischenstaatlichen Beziehungen auf eine völlig neue Grundlage, indem sie das auf den Westfälischen Frieden zurückgehende Prinzip der alleinigen richterlichen Gewalt souveräner Staaten aufgaben. Souveränität wurde nun neu konzipiert als partielle und bedingte Lizenz, die zurückgezogen werden kann, wenn ein Staat den liberalen ökonomischen und politischen Normen nicht entspricht, die von der US-geführten «internationalen Gemeinschaft» gesetzt und von ihren globalen Institutionen überwacht werden. Spiegelbildlich zur Erosion der Souveränität anderer Staaten sammelte sich diese im imperialen Zentrum, wo sich die USA das Recht zum «regime change» herausnahmen – mit der Zustimmung ihrer Verbündeten, aber auch ohne sie.
Im Rahmen dieser neuen Ordnung war Washingtons Politik gegenüber China eindeutig. Die 1993 in der Nationalen Sicherheitsstrategie dargelegten Richtlinien sind seitdem konsequent befolgt worden.
Nach dem Kalten Krieg lag die strategische Priorität für die USA auf der Verhinderung der Entstehung einer neuen Supermacht und der Bewahrung der unangefochtenen Luft- und Seehoheit über die Pazifikregion, die sie seit 1945 besaßen.
Washington wollte China genau beobachten und, je nach Notwendigkeit, «unterstützen, eindämmen oder im Gleichgewicht halten». Peking sollte dazu gedrängt werden, die von der Weltbank ausgearbeiteten Strukturreformen einzuführen – also seine Märkte für nordatlantische Firmen und Investoren vollständig zu öffnen und deren Eigentumsrechte zu garantieren. Washington hoffte, dass die Einbindung chinesischer Eliten in sein Universitätssystem dazu beitragen würde, eine neue Schicht von Jelzins und Gorbatschows zu produzieren, die für die Idee offen wären, die KPCh durch eine akzeptablere Form der Herrschaft zu ersetzen.
Peking hat seinerseits keinen Ehrgeiz gezeigt, Amerikas innere Verfasstheit zu ändern, und ist auch die neue zwischenstaatliche Ordnung nicht frontal angegangen. Die KPCh verfolgte das zweifache Ziel, ihr politisch-ökonomisches Modell zu schützen und Chinas Status innerhalb des von den USA geführten internationalen Systems aufzuwerten. Im Gegensatz zur knallharten Prosa amerikanischer Politikdokumente sind die öffentlichen Äußerungen aus China über die großen Linien seiner Strategie nebulös, wenn nicht gar negativ. «Ein niedriges Profil bewahren, die Intelligenz verbergen, nicht nach der Führung streben, aber einige Dinge tun», so die Weisheit, die Deng Xiaoping zugeschrieben wird.
In der Praxis war Chinas Außenpolitik schwankend. Mit einem Auge darauf aus, den Amerikanern gefällig zu sein, hat China aggressive Schritte gegen «Bruder»regime unternommen: die katastrophale Invasion Vietnams 1979; der Einsatz von Uiguren zur Unterstützung der von den USA gestützten Mudschaheddin in Afghanistan; die Billigung der US-Sanktionen gegen Nordkorea. Seine gelegentlichen Invektiven gegen den Hegemonismus Lügen strafend, stimmte China im UN-Sicherheitsrat für die Besetzung des Irak und die Bombardierung Libyens.
Peking opertierte innerhalb der neuen globalisierten Ordnung, hoffte aber zugleich, sich vor dem Schicksal zu wappnen, das die «offenen Märkte» der Region während der Asienkrise von 1997 erlitten hatten, als der IWF auf Jakarta, Bangkok und Seoul hereinbrach. Kapitalkontrollen und ein gewaltiger Hort an Dollareinnahmen waren Pekings erste Verteidigungsstrategie – erwirtschaftet durch einen Handelsüberschuss von 2 Billionen Dollar gegenüber den USA, von deren Konsumenten das chinesische Exportmodell abhängig wurde.
Gleichzeitig war die Führung der KPCh bestrebt, mit Hilfe eines gigantischen Programms heimischer Investitionen so schnell wie möglich vom Exportmodell weg zu einem aus dem Inland getriebenen Wachstum zu gelangen. Von den frühen 2000er Jahren an zog der physische Neuaufbau des Landes – hunderte neuer Städte, tausende Meilen von Superhighways, Kraftwerke, Viadukte, Hochgeschwindigkeitszüge – Rohstoffe und Inputs aus Staaten der südlichen Hemisphäre ab, für die China ein bedeutender Handelspartner wurde: Brasilien, Argentinien, Venezuela, Zambia, Sudan, Australien, Indonesien. In diesem Prozess ging China als einzigartiger Erbauer von Infrastruktur hervor, mit der Errichtung von Highways über Andenhänge und von Brücken zwischen Inseln im Indischen Ozean. Die Verträge wurden durch billige Anleihen erleichtert. Das neue China warf ein grelles Licht auf die Grenzen der Macht der USA, auf die Zonen, die die Strukturanpassung unentwickelt ließ, die Länder, die von der Laune Washingtons bestraft wurden.

Wendepunkt Finanzkrise
Die Finanzkrise brachte einen Wendepunkt in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Ein guter Teil von Pekings Dollarreserven war vertrauensselig in den US-amerikanischen Hypothekenbanken Fanny Mae und Freddie Mac geparkt worden. Die Entdeckung, dass sie nun in der Kreditkrise verschwunden waren, war ein Schock. «Während wir in Hochstimmung waren über das rasche Wachstum der Währungsreserven, war China nichts ahnend in eine ‹Dollarfalle› geraten», bemerkte ein Experte. Washington übernahm die staatliche Aufsicht über die Hypothekenbanken. Aber dies war nur ein Feuer, das zu löschen war. Weit gefährlicher war das Risiko für das atlantische Bankensystem als Ganzes. Die Zentralbank Federal Reserve bot den betroffenen Banken halbverborgene Kreditlinien, bei denen die Vertragsparteien Zins- und Kapitalzahlungen in unterschiedlichen Währungen austauschen konnten. Russland und China blieben außen vor.
Für Washington kam der größte geopolitische Schock 2009 aus Japan, wo die oppositionelle Demokratische Partei einen Erdrutschsieg erzielte. Ihr Führer Yukio Hatoyama verkündete, das Scheitern des Irakkriegs und der Crash an der Wall Street zeigten, dass die Ära der von den USA angeführten Globalisierung ihrem Ende entgegengehe, und begrüßte das kommende multipolare Zeitalter. Japan erkannte, dass seine grundlegende Daseinssphäre die Region Ostasien war. Es wollte eine regionale Währungsintegration – mit China – als natürliche Ergänzung zu seinem Wirtschaftswachstum anstreben, mit einem entsprechenden neuen Sicherheitssystem. Es forderte, die USA sollten ihre riesige militärische Basis auf Okinawa aufgeben. Die Obama-Administration mobilisierte alle Kräfte gegen diesen Plan. Im April 2010 gab Hatoyama klein bei. Obamas «Drehpunkt in Asien» – 60 Prozent der amerikanischen Feuerkraft sollten dort stationiert werden – wurde in Gang gesetzt.
Pekings Reaktion auf die Finanzkrise war eine zweifache. Auf diplomatischer Ebene «diversifizierte» die Regierung Hu Jintao die Außenpolitik. Washington war immer noch der «Schlüssel aller Schlüssel», doch es wurde ergänzt: «die umgebenden Gebiete haben die erste Priorität, sich entwickelnde Länder sind die Grundlage, multilaterale Formen sind das bedeutende Stadium». Peking kombinierte ein breites Anreizpaket mit einer Instruktion an die Banken, ihre Kreditlinien zu verdoppeln – die Auswirkungen davon wurden auf fast 20 Prozent des BIP geschätzt. Die zentralen Behörden legten die Sektoren fest, in denen regionale und untere Verwaltungsebenen solche Pakete ausgeben sollten: Gesundheit, Bildung, Wohnung, Umweltschutz usw. Allerdings ging ein großer Teil in Spekulationsblasen und fragwürdige Anleihen.
Kurzfristig wurde das Wachstum wiederhergestellt durch einen scharfen Schwenk zu den staatseigenen Betrieben und dem staatlich geschützten Finanzsektor bei gleichzeitig verstärkten Kapitalkontrollen – was von der Weltbank beklagt wurde. Die steigende innere Verschuldung war ein weiterer Grund für China, seine Märkte dem atlantischen Kapital nicht weiter zu öffnen. Eine sich verlangsamende Wirtschaft und die gärende Unzufriedenheit in der Bevölkerung stärkten die Gründe für ein politisches Einschreiten.
Als sich im heimischen Bausektor eine Überkapazität ansammelte, gab die Regierung Xi Jinping dem Projekt, Verträge im Ausland an Land zu ziehen, eine strategische Gestalt. Die 2013 verkündete Belt and Road Initiative würde westwärts über Eurasien und südlich nach Singapur reichen und die Häfen von Hambatonta bis Gwadar und Djibouti entlang der südlichen Ozeane des Kontinents verbinden. Anleihen und Warenrechnungen könnten außerhalb des Dollarsystems ausgestellt werden. Gleichzeitig begannen amerikanische Beobachter Alarm zu schlagen über die chinesischen Fortschritte in digitaler Technologie, Gesichtserkennung und künstlicher Intelligenz, genährt von den Datenströmen ihrer gewaltigen Online-Bevölkerung.

Ausblick
Auf den ersten Blick ist die VR China ein klassisches Beispiel für ungleiches kapitalistisches Wachstum, das eine neue Großmacht hervorbringt, die zwangsläufig Reibungen bei der bestehenden Aufteilung der Erde verursacht. 1914 waren die europäischen Großmächte ökonomisch wie militärisch gleichrangig, sodass sie einen vier Jahre dauernden Krieg führen konnten, bis eine Seite obsiegte. Heute ist das amerikanische Imperium so ausgedehnt, so anmaßend in seinen Forderungen, dass sich jede rasch aufsteigende Macht sofort an ihm reiben muss. Doch seine militärische Stärke macht seinen Sturz unmöglich. Das Ergebnis kann nur Unterwerfung oder ein langes, holpriges Unentschieden sein.
Die Trump-Administration hat in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen einen raueren Ton angeschlagen. Doch der Kurswechsel von «unterstützen» zu «im Gleichgewicht halten und eindämmen» war bereits unter Obama im Gang. Die wachsenden Spannungen zwischen den beiden sind, wieder einmal, asymmetrisch bestimmt, wenngleich abzuwarten ist, ob Xi kriegerischer ist als seine Vorgänger. Doch die gegenseitige Abhängigkeit ist so groß, dass viele Waffen Washingtons sich als zweischneidig erweisen könnten. Der Handel hat zugenommen, auch als die Spannungen stärker wurden.
Trumps Zollkrieg bedroht bereits Wahlkreise mit politischem und wahltaktischem Gewicht – Farmer, Banker, Luftfahrt- und Maschinenbauunternehmen –, während das politische System in China die Unzufriedenheit zu Hause, wenn der Gürtel infolge ausländischer Blockaden enger geschnallt werden muss, leichter unter Kontrolle halten kann. Die US-Notenbank könnte durch eine Anhebung der Zinssätze Investitionskapital aus China abziehen, aber das würde die USA und den Rest der Welt zurück in die Rezession treiben. Finanzielle Sanktionen von der Art, wie sie gegen Russland und den Iran verhängt werden – und jetzt gegen den Huawei-Konzern getestet werden –, haben keine negativen Auswirkungen zu Hause, aber sie strapazieren die Verbündeten. Sogar Deutschland widerstrebt der jüngste Kurs gegen Teheran. Das Säbelrasseln in der Straße von Taiwan oder im Südchinesischen Meer schart die chinesische Bevölkerung hinter Xi und alarmiert die Wall Street. Die gegenwärtige US-Außenpolitik treibt Russland, China und den Iran in eine De-facto-Allianz.
Chinas Optionen wiederum sind noch eingeschränkter. Es kann sich nicht erlauben, seine Dollars loszuwerden, und ihm fehlt jedes Äquivalent zu Amerikas System eines Bündnisses reicher Staaten. Es kann sich der traditionellen Waffe der Schwachen bedienen – zustimmen, aber dann nichts tun. Am wahrscheinlichsten ist deshalb eine langandauernde zieharmonikaförmige Zermürbung – Perioden von Druck wechseln sich ab mit phasenweiser Entspannung, Abkommen auf Gipfelebene, durchsetzt mit Alarmrufen und Schattenboxen, plötzlichen Krisen um Spionageflüge, Interventionen zur Schürung oder Unterdrückung von Revolten.

* Zuerst erschienen in: New Left Review Nr.115, Januar/Februar 2019.

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