Anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises
von Angela Klein
Anfang März sollte der Göttinger Friedenspreis an die Organisation «Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost» verliehen werden.
Die Preisverleihung findet traditionell in der Aula der Universität statt. Es soll damit an die ruhmreiche Tradition erinnert werden, die Professoren und Studierende dieser Universität durch ihr mehrfaches Aufbegehren gegen absolutistische Bevormundung und politische Maulkörbe begründet haben: Die Göttinger Sieben, zu denen auch die Brüder Grimm gehörten, lehnten sich in den 1830er Jahren gegen die Aufhebung der liberalen hannoverschen Verfassung auf; 1957 intervenierten die Göttinger Achtzehn, eine Gruppe von 18 hochangesehenen Atomforschern, bei Adenauer gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen.
Von dieser Tradition hat sich die derzeitige Universitätspräsidentin, Ulrike Beisiegel, abgewandt. Sie – und mit ihr der SPD-Oberbürgermeister von Göttingen, Rolf-Goerg-Köhler, sowie der Sparkassenpräsident – sind vor dem Zentralrat der Juden eingeknickt, der in einem empörten Brief an den Oberbürgermeister gefordert hatte, von der Preisverleihung Abstand zu nehmen, denn die Jüdische Stimme unterstütze BDS (Boykott, Deinvestment und Sanktionen) und «die Stoßrichtung der BDS-Bewegung ist unzweifelhaft antisemitisch». Die Verleihung fand dann trotzdem statt – in einer privaten Galerie, finanziert durch private Spenden.
Der Fall ist vorläufiger Höhepunkt einer langen Reihe von Maßnahmen, durch die Initiativen aller Art, die sich kritisch mit der Politik der israelischen Regierung befassen, aus öffentlichen Räumen ausgesperrt werden. Die Zahl der Raumverbote geht mittlerweile in die Hunderte. Allein als Moshe Zuckermann im vergangenen Jahr sein neues Buch Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit auf einer Lesereise vorstellen wollte, wurden 80 Raumverbote gegen ihn ausgesprochen. Gegen die Ausstellung «Nakba», die die Staatsgründung Israels aus palästinensischer Sicht darstellte, gab es einen Shitstorm; die Volkshochschule Reutlingen konnte die Ausstellung noch zeigen, viele andere aber nicht mehr. Bei der Ruhrtriennale wurde wegen des Auftritts der schottischen Pop-Band Young Fathers, die die BDS-Kampagne unterstützt haben soll, ein Eiertanz mit Ein-, Aus- und Wiedereinladungen vollführt. Gegen das Jüdische Museum in Berlin und gegen die Berlinale intervenierte die israelische Regierung und forderte wegen angeblich antisemitischer Bestrebungen, die staatlichen Zuschüsse an diese Institutionen zu kürzen.
Es ist inzwischen ein Flächenbrand: Tagungen werden abgesagt, Filmaufführungen verboten, Referenten ausgeladen. Einige Kommunen gehen mittlerweile dazu über, Ratsbeschlüsse für mögliche Verbote zu fassen, mit denen sie vor jedem A-Wort einknicken können. Besonders perfide ist das in Fällen wie in Köln: Hier sucht der Rat derzeit eine Grundlage, um der AfD im Mai die Durchführung ihrer Europakonferenz in einem der Bürgerhäuser untersagen zu können. Dabei fällt ihm nichts Besseres ein, als israelkritische Veranstaltungen gleich mit zu verbieten – man will ja «ausgewogen» sein.
In München hat die Stadt ein generelles Verbot der Raumüberlassung für alle Veranstaltungen beschlossen, die das Thema BDS auch nur berühren, und sogar verhindert, dass über diesen Beschluss in solchen Räumen diskutiert werden kann. Eine Klage dagegen hat das Münchener Verwaltungsgericht im vergangenen Dezember abgewiesen. Peter Vonnahme, bis 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, erklärt dazu auf dem Internetportal Rubikon: «Die Stadt verkennt, dass es sich bei den Räumen nicht um ihre Räume handelt, sondern um Einrichtungen, die mit dem Geld der Bürger finanziert worden sind. Hieraus folgt, dass die Stadt nicht nach Gutsherrenart darüber verfügen kann, sondern dass sie sich an die gesetzlichen Vorschriften halten muss. [Nach Artikel 21 der Bayrischen Gemeindeordnung sind alle Gemeindeangehörigen berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen.] Die Widersinnigkeit des Stadtratsbeschlusses ergibt sich schon daraus, dass sogar Veranstaltungen ausgeschlossen werden müssen, die sich ausdrücklich gegen die BDS-Kampagne wenden… Das Kartell des Schweigens hat zahlreiche andere Städte sowie Universitäten, Akademien und kirchliche Einrichtungen erfasst. Das Münchner Gerichtsverfahren hat also Bedeutung weit über München hinaus.»
Die Überidentifikation auch eines Teils der «Linken» mit dem Staat Israel als Antwort auf die deutsche Schuld am Judenmord gehört zu den politischen Verirrungen der Nachwendezeit. Doch so richtig aufgegangen sind die Schleusen erst, als die israelische Regierung die Gefahr erkannte, die von der BDS-Kampagne ausgeht – dass nämlich die israelische Politik gegenüber den Palästinensern vor den Augen der Welt moralisch diskreditiert wird – und eine ganze Armada staatlicher Mittel dagegen aufgefahren hat. Einen wichtigen Erfolg hat sie errungen, als Kanzlerin Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset Israels Sicherheit zu einem Bestandteil deutscher Staatsräson erklärte. Folgerichtig hat sie einen Bundesbeauftragten für Antisemitismus ernannt – einen solchen für Rassismus oder Islamfeindlichkeit gibt es nicht –, der die Wünsche der israelischen Regierung in die deutsche Innenpolitik einspeist. 2016 hat die israelische Regierung die Eliminierung der BDS-Kampagne zu einem strategischen Ziel erklärt, das mit allen politischen und geheimdienstlichen Mitteln zu verfolgen sei. Das Ministerium für strategische Angelegenheiten wurde dafür mit einem Etat von 60 Millionen Euro ausgestattet. Die Bundesregierung handelt als willige Vollstreckerin der israelischen Wünsche.
Doch mehren sich die kritischen Stimmen, auch aus dem bürgerlich-liberalen Lager. Das EineWeltHaus in München hat heftige Kritik am Stadtratsbeschluss geäußert und die Stadt aufgefordert, diesen zurückzunehmen. Die Stiftung für Wirtschaft und Politik, außenpolitische Beraterin der Bundesregierung, wendet sich gegen die «Verweigerung des Dialogs». Selbst Micha Brumlik, der einst die Grünen verließ, weil sie Waffenlieferungen an Israel ablehnten, spricht inzwischen von einem «Prinzip der Kontaktschuld». Damit bezeichnet er die Angst, schon dann als antisemitisch zu gelten, wenn Personen «nur den geringsten persönlichen Kontakt zu einer als feindlich definierten Gruppe haben».
Auch in der traditionell proisraelischen jüdischen Community in den USA regt sich Kritik am autoritären Nationalismus in Israel. Das mag viele Ursachen haben. Doch der Aufstieg der extremen Rechten in Europa und ihre guten Beziehungen zur israelischen Regierung mag bei einigen die Einsicht befördern, dass es bei dieser Auseinandersetzung nicht nur um die Rechte der Palästinenser in Israel geht, sondern um die Bekämpfung autoritärer, nationalistischer und rassistischer Positionen – ganz gleich, von welcher Seite sie kommen.