Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2019
Erster Weltkrieg und Revolution 1918/19 – die Erschütterungen hinter den Ereignissen
von Paul B. Kleiser

Den Traum von einem einigen deutschen Reich gab es – zumindest unter Intellektuellen – seit napoleonischer Zeit. Doch erst in der Revolution 1848 wurde der Versuch gemacht, diese Einheit auf revolutionärem Wege herbeizuführen.
Bekanntlich scheiterte der Versuch am Widerstand des Adels und der Kirchen, vor allem aber an der von den Hohenzollern in Marsch gesetzten preußischen Armee. Das Bürgertum war in Deutschland zu schwach und zu fraktioniert, als dass es die Rolle der französischen Bourgeoisie von 1789 hätte spielen können. Außerdem war unklar, ob Österreich (oder ein Teil der Habsburgermonarchie) zu diesem Deutschland gehören sollte oder nicht.
Nachdem Bismarck 1862 preußischer Ministerpräsident geworden war, betrieb er eine Politik der Reichseinigung mit «Blut und Eisen». Das (zweite) deutsche Kaiserreich wurde 1871 in Versailles von den 22 gekrönten Häuptern des Reiches ausgerufen, nachdem Bismarck in Geheimverhandlungen und mit viel Geld den widerspenstigen Bayer Ludwig II. «überzeugt» hatte, sich dem (mehrheitlich protestantischen) Reich anzuschließen. Bayern behielt aber eine eigene Verwaltung, Währung und Armee.
Vor dem Hintergrund des «Gründerkrachs», der ersten großen Spekulationswelle und der Rezession 1873, schrieb Karl Marx, die komplexe Struktur des Bismarck-Reiches sei «nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus» (Kritik des Gothaer Programms, MEW 19. S.29).
Der Großgrundbesitzer Bismarck, der unter Wilhelm I. sogar in den Fürstenrang erhoben wurde, schuf sich ein Reich nach seinem Bilde: Gleich seinen die Idylle des Landes verherrlichenden Kumpanen verachtete er Reichtum, Luxus, Handel, Börse, also den sich herausbildenden Finanzkapitalismus. Luxus wurde mit Dekadenz gleichgesetzt.
Die klassenmäßige Grundstruktur des neuen Reiches lag bei den «Kraut- und Schlotjunkern», also den das klassische Preußen Ostelbiens dominierenden Gutsbesitzern und den Schwerindustriellen von Rhein und Ruhr, die häufig in den Adelsstand erhoben wurden. Durch den Wirtschaftsboom seit Mitte der 1890er Jahre stieg das Gewicht der Schwerindustriellen (Borsig, Krupp, Stinnes, Thyssen usw.) und der Chemiefabrikanten im Reich immer mehr; viele von ihnen wurden nobilitiert, darunter auch einige Juden aus der Hochfinanz.
Aber die Erhebung in den Adelsstand erfolgte bei Bürgerlichen typischerweise vor allem in den drei Kernbereichen des (preußischen) Adels, nämlich bei Offizieren, höheren Beamten und Gutsbesitzern. Noch zwei Monate vor Ende des Krieges verteidigte Wilhelm II. vor Krupp-Arbeitern die ständische Gesellschaft des Obrigkeitsstaats, die ihre Einheit im Krieg gefunden habe: «Jeder von uns bekommt von oben seine Aufgabe zugeteilt. Du an deinem Hammer, du an deiner Drehbank und Ich auf meinem Throne.»
Besonders der auf dem Land lebende und häufig vom Abstieg bedrohte Klein­adel verachtete die «wurzellosen Asphaltmenschen» der Großstädte. Sein Antimodernismus war häufig mit Antisemitismus gepaart (Wilhelm II. hatte ganze 13 Juden geadelt): «Das Judentum, die Finanzbourgeoisie und ein Teil des reichen Hoch- und Hofadels verschmolzen in der Wahrnehmung des Kleinadels immer stärker zu ein und demselben Übel» (Stephan Malinowski). Nicht zufällig finden sich nach dem Krieg auffällig viele Kleinadlige unter den Führern der protofaschistischen Freikorps und später natürlich bei den Nazis. Selbst auf die AfD trifft dies noch zu.

Die Frage der Kriegsschuld
Um die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten zu erreichen, hatte die politische und militärische Führung behauptet, das Reich sei von Russland angegriffen worden. Man tat so, als führe man einen Abwehrkampf; außerdem konnten tiefsitzende Ressentiments gegen die «asiatischen Barbaren» aufgewärmt werden. In der schon vor dem Kriegsende aufkommenden Debatte über die Frage der deutschen Kriegsschuld gestanden die Führer der Arbeiterbewegung im allgemeinen zumindest eine deutsche Mitschuld ein. Doch höchst umstritten war, ob nur Regierung und Militär oder das ganze deutsche Volk verantwortlich zu machen sei.
Der von Kurt Eisner im Februar 1919 zur Sozialistenkonferenz nach Bern entsandte Friedrich Foerster argumentierte mit dieser Schuld: Das deutsche Volk habe es in langen Jahrzehnten nicht verstanden, sich vom «aggressiven Militarismus, übersteigerten Nationalismus und preußischen Untertanengeist» zu befreien. Die Anerkennung dieser Schuld durch Eisner dürfte Graf Arco zu seiner Mordtat am Ministerpräsidenten bewogen haben. Auch die späteren Morde an den Ministern Matthias Erzberger und Walter Rathenau durch Rechtsextreme stehen in diesem Zusammenhang.
Der Krieg hatte bis dahin unbekannte Kräfte der Zerstörung und Vernichtung freigesetzt und zahlreiche überkommene Werte in Frage gestellt oder zerstört. Die Feier des Individuums der bürgerlichen Kultur wurde durch die Massenkultur sowie die Mechanisierung und Industrialisierung des Krieges infolge des Einsatzes neuer Technologien – vor allem des Maschinengewehrs, später des Panzers und des Flugzeugs, sodann des Flammenwerfers und des Giftgases – immer stärker in die Defensive gedrängt.
Der Mitbegründer der Dada-Bewegung, Hugo Ball, beschrieb in einem in Zürich gehaltenen Vortrag diese Grunderfahrung noch während des Krieges: «Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären … Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken … Maschinen entstanden und traten anstelle der Individuen …Turbinen, Kesselhäuser, Eisenhämmer, Elektrizität ließen Kraftfelder und Geister entstehen … Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, verzehrte die individuellen Gesichter in turmhohen Masken, verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das Ich und schwenkte Meere von ineinander gestürzten Gefühlen gegeneinander.» Auch Ernst Toller beschrieb in Masse Mensch ähnliche Erfahrungen, doch bei ihm kamen Verweise auf Kapitalinteressen und Börsenspekulation hinzu.

Die Bedeutung der Frauenfrage
Eine doppelte Bewegung führte zu einer tiefen Erschütterung der klassischen Geschlechterrollen in der kriegführenden Gesellschaft: Einerseits standen mehr als 8 Millionen deutscher Männer im Feld, deren Arbeit nur zum kleinen Teil durch Junge und Alte, später dann auch Kriegsgefangene verrichtet werden konnte. Gleichzeitig führte der Krieg zu massenhafter zusätzlicher Produktion von Kriegsmaterial aller Art, von Patronen über Maschinengewehre bis hin zum Panzer. Überall mussten (zunächst unverheiratete) Frauen in die Fabriken nachrücken oder die Arbeit von Männern bei Straßen- und Eisenbahnen und in der Verwaltung verrichten. Zumeist waren die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung deutlich schlechter als bei Männern; oft lagen die Löhne unter dem Existenzminimum.
Da die Versorgung mit Nahrungsmitteln immer schwieriger wurde, fuhren immer mehr Frauen zum «Hamstern» aufs Land; viele Bauern und Händler nutzten ihre Notlage brutal aus. Bei den Streiks im Winter 1917/18 spielten daher Frauen eine wichtige Rolle; für ihre pazifistische Agitation und Organisierungsarbeit in München wanderte Sarah Sonja Lerch ebenso wie Kurt Eisner ins Gefängnis.
Bereits 1873 hatte die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm über die Benachteiligung von Frauen geschrieben: «Die Frauen haben Steuern zu zahlen wie die Männer, sie sind verantwortlich für Gesetze, an deren Beratung sie keinen Anteil gehabt; sie sind also den Gesetzen unterworfen, die andere gemacht. Das nennt man in allen Sprachen der Welt Tyrannei.» Teile der Frauenbewegung forderten ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, während andere vor allem die konkreten Benachteiligungen von Frauen (geringe Löhne, Doppelbelastung) und die Probleme der Kinderbetreuung aufs Korn nahmen.
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900, das bis in die 50er Jahre weitergalt, bestimmte: «Es entspricht der natürlichen Ordnung, dass die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten bei Meinungsverschiedenheiten dem Ehemanne zusteht.» Diese Ordnung, deren Formulierung auf den Kirchenvater Thomas von Aquin zurückgeht, wurde von der katholischen Kirche mit Zähnen und Klauen verteidigt. So meinte der Kölner Kardinal Frings: «Der naturgemäße Träger der von dem Ehe-Ordnungs-Prinzip geforderten Autorität ist der Mann und Vater. Seine Rechtsstellung erwächst nicht aus geschichtlich gewordenen Verhältnissen, sondern beruht auf seiner besonderen Aufgabe zum Schutz und zur Wahrung der äußeren Einheit und Ordnung des Familienlebens.» Daher kann Gleichberechtigung nur Häresie sein, wie der Münchner Kardinal, Monarchist und Kriegsbefürworter Michael von Faulhaber erklärte.
In den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten spielten Frauen naturgemäß nur eine untergeordnete Rolle. Die bekannte Münchener Frauenrechtlerin und Mitglied der bayrischen Übergangsregierung Anita Augspurg intervenierte bei Kurt Eisner, auch Frauenräte zuzulassen, was von der Räteversammlung aber abgelehnt wurde. Daher konnte sich die Mehrheitssozialdemokratie im Wahlkampf zur 1.Nationalversammlung die Forderung nach dem Frauenwahlrecht auf ihre Fahnen schreiben.
Während die USPD auf ihren Plakaten zu den Wahlen vom 19.Januar 1919 den «starken Arm des Arbeiters» abbildete, zeigte die SPD nach französischem Vorbild eine junge Frau vor aufgehender Sonne; man konnte das Bild als Symbol für die Gleichberechtigung oder für die Republik lesen.
Die konfliktträchtige Frontstellung zwischen Nationalversammlung und Rätemacht konnte auch mit Hilfe der Frauenfrage von der Führung der SPD klar zugunsten des Parlaments entschieden werden. Am 19.Februar 1919 hielt Marie Juchacz (SPD) aus Landsberg als erste Frau eine Rede vor einem deutschen Parlament, der Weimarer Nationalversammlung.
Die aus dem Krieg heimkehrenden Männer fanden die Heimat völlig verändert vor. Viele waren orientierungslos und schlossen sich den Freikorps oder anderen paramilitärischen Gruppen an. Da sie an der Front nicht lange gefackelt hatten, kam es zu einer Explosion der Gewalt in Haushalten und Gesellschaft. Die aus der Produktion verdrängten Frauen mussten sich jetzt um Nahrungsbeschaffung und häufig auch um ihre arbeitslosen, verwundeten oder traumatisierten Männer und Söhne kümmern. Oft versanken die Ideale der Emanzipation in Trauer, Wut und Gewalt, vor allem nach der Bekanntgabe der harten Friedensbedingungen durch die Siegermächte am 7.Mai 1919 in Paris, die eine nationalistische Aufwallung hervorriefen.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.