Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2019
Rede von Iris Hefets anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises (Auszüge)
dokumentiert

Der diesjährige Göttinger Friedenspreis, vergeben von der Stiftung Roland Röhl, ging an die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Der Zentralrat der Juden hat versucht, das zu verhindern und von der Stiftung die Absetzung der Jury verlangt. Die Stiftung hat das abgelehnt, doch die Preisverleihung konnte nicht, wie üblich, in der Aula der Universität stattfinden. Nachstehend Auszüge aus der Preisrede der Vorsitzenden, Iris Hefets.

Ich kann nicht verschweigen, dass das Erlebnis, als Juden und Jüdinnen unerwünscht zu sein, sehr unangenehm ist. […]
Unsere Organisation, die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, wurde am 9.11.2003 gegründet. Schon zum Zeitpunkt der Gründung war uns bewusst, dass wir einen Widerspruch aushalten müssen… Wir sind ein paar Dutzend Juden mit Internetanschluss, Schuld- und Schamgefühlen gegenüber den Palästinensern und Angst um die Zukunft Israels. Wir sind natürlich nicht neutral, Neutralität dient dem Unterdrücker. Wir sind vom Geschehen betroffen, es geht um unsere Kinder, Freunde, Verwandte.
Die Vorgeschichte dieser Veranstaltung zeigt dass, wenn von israelischer Politik gesprochen wird, dann wird, vor allem in Deutschland, oft nicht über Politik gesprochen, sondern vielmehr über Identität. Nicht wenige jüdische und nichtjüdische Deutsche versuchen, ihre Schwierigkeiten mit ihrer Identität durch eine kritiklose Identifizierung mit dem Staat Israel zu lösen. Egal welche Politik die israelische Regierung betreibt, sie sind dabei. Deshalb haben wir uns gegründet, um als in Deutschland lebende Juden und Jüdinnen unserer Stimme Gehör zu verschaffen und Einfluss auf die deutsche Zivilgesellschaft zu nehmen. […]
In Deutschland erleben wir wiederholt einen Ablauf nach folgendem Muster: Die Rechte der Palästinenser werden verletzt, es findet ein politischer Protest dagegen statt, die deutsche Presse findet – oder erfindet, wie erst jüngst durch Fake News geschehen – einen antisemitischen Vorfall und am Ende wird von Antisemitismus geredet und diesbezüglich agiert, womit der ursprüngliche Protest erstickt ist.
Trump entscheidet zum Beispiel völkerrechtswidrig, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, junge Palästinenser protestieren in Berlin, ein Journalist der Berliner Zeitung behauptet, sie hätten «Tod den Juden» auf Arabisch gerufen und sofort wird über Antisemitismus unter Muslimen gesprochen. Dass nach mühseligen Recherchen der Journalistin Emily Dische-Becker sich herausstellt, dass dieser Journalist kein Arabisch versteht und dass eine Prüfung aller Filme und Aufnahmen seine Behauptung nicht belegen kann – das geht unter. Auch weil es vielen im Lande passt.
Die neue deutsche Identität konsolidiert sich als «nicht antisemitisch» auch durch Verschiebung des christlichen Antisemitismus auf eine muslimische Minderheit. Man kann so die deutsche Vergangenheit als überwunden betrachten und von den NSU-Morden, NPD, Pegida, Legida und AfD absehen. Unter den AfD-Wählern befinden sich aber kaum Muslime.
Durch diese wiederholte schlechte Pressearbeit bleiben die Juden das ewige Opfer und die Palästinenser bzw. «Araber» ihre Täter, während Christen die Juden zu retten versuchen. Dieses Vorgehen wird seit Jahrzehnten von den israelischen Regierungen und ihren Institutionen und Unterstützern in- und außerhalb Israels orchestriert.

Das einigende Band: Kampf gegen «den Islam»
Das offizielle Israel [macht] das christliche Europa, letztendlich auch Mutterland des israelischen Siedlerkolonialismus, weniger und weniger für die Beteiligung am Holocaust verantwortlich. Vor kurzem wurde die aktuelle antisemitische Regierung Polens von Netanyahu durch ein Abkommen für koscher befunden. Viktor Orbán, der eine antisemitische Kampagne gegen den ungarischen Juden und Holocaustüberlebenden George Soros in Gang setzte und ihn dazu zwang, die von ihm gegründete Universität nach Wien zu verlegen, wurde von Netanyahu in Yad Vashem empfangen. Auch Matteo Salvini durfte sich bereits in die Rassisten-VIP-Liste der Yad-Vashem-Besucher eintragen. […]
Die christlich orientierten Verbündeten Israels in Europa, den USA oder jetzt Brasilien verbreiten gemeinsam mit Israel die Idee eines Kampfes gegen den «Islam». So kann der Staat Israel den Konflikt um Land, Rechte und Selbstbestimmung, den er konkret mit den Palästinensern hat, als Teilaspekt einer globalen Bedrohung verkaufen. Es geht dann nicht mehr um Handlungen von Israel, die Vertreibung der Palästinenser, die Enteignung ihres Besitzes und die Abriegelung von Gaza. Die gewaltsame Expansion Israels auf Kosten der Palästinenser wird als Widerstand gegen den global angreifenden Islam umgedeutet: Israel wird als Opfer stilisiert, während die Palästinenser die Täter sind, die aggressiv gegen Israel agieren, weil sie angeblich Antisemiten sind und nicht, weil sie einen Befreiungskampf führen.
Nach Lesart der israelischen Regierung geht es um einen religiösen Konflikt, der international ausgetragen werden muss und Allianzen zwischen Israel und radikalen Rechten wie Orbán, Salvini, Trump oder Bolsonaro und deren Parteien begründet. Und wenn der Konflikt religiös ist und in der «Natur der Muslime» liegt, wie Israel propagiert, dann erübrigt sich eine Einigung mit den Palästinensern, es geht ja um einen existentiellen Kampf gegen «das Böse».

Der lange Arm der israelischen Regierung
Dr.Felix Klein ist «Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus». Sein Aufgabenbereich überschneidet sich mit dem des Zentralrats der Juden, der seinerseits knapp die Hälfte der Juden in Deutschland repräsentiert. Wir in der Jüdischen Stimme konnten den angeblichen «Schutz» des neuen Bundesbeauftragten bereits am eigenen Leib erfahren. Unser Konto bei der Bank für Sozialwirtschaft wurde 2016 auf Druck der israelischen Regierung und ihrer Vertreter in der jüdischen Gemeinde gekündigt. Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit wurde in Deutschland ein Konto einer jüdischen Organisation geschlossen und das, so wurde uns explizit gesagt, aus politischen Gründen. Wenn wir unsere Unterschrift unter dem BDS-Aufruf zurückzögen, bekämen wir das Konto wieder.
Eine deutsche Institution, in diesem Fall eine Bank, entschied also, welche Juden die richtigen und als Kunden der Bank gewollt sind und welche nicht. Unter anderem wurde uns vorgeworfen, dass wir das Existenzrecht Israels verneinen. Viele von uns sind Israelis. Nachdem wir versicherten, dass es uns um die sichere Zukunft unserer Familien und Freunde dort geht, und nach Protesten zahlreicher Menschen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft, die die Bedrohung für die Meinungsfreiheit erkannten, revidierte die Bank ihre Entscheidung.
Der Druck rechter Kräfte lässt aber nicht nach. Die Bank für Sozialwirtschaft fand sich wegen unsers Kontos zuletzt auf der Top-10-Liste von Antisemiten des Simon-Wiesenthal-Zentrums wieder. Die Entwicklung dieses Zentrums steht sinnbildlich für den bereits beschriebenen Bund zwischen israelischer Regierung und radikalen Rechten.
Da die Bank für Sozialwirtschaft sich nicht anders zu helfen wusste, hatte sie zuvor Hilfe bei Dr.Felix Klein gesucht. Felix Klein sollte eigentlich unser jüdisches Leben fördern, darunter unsere Grundrechte auf Meinungsfreiheit und politische Organisation. Im Fall politischer Zensur gegenüber einer Minderheit sollte er besonders hellhörig sein. Der deutsche Beamte Dr.Klein empfiehlt jedoch, ein Gutachten einzuholen, ob wir Mitglieder der Jüdischen Stimme, also allesamt Juden, Antisemiten sind oder nicht. Maßstab soll die umstrittene, aus naheliegenden Gründen von der israelischen Regierung propagierte Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) sein.

BDS wird Mainstream
Grund dieser politischen Verfolgung ist ein Zensurversuch. Wir, die Jüdische Stimme, haben, wie viele jüdische Friedensorganisationen weltweit, den BDS-Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft unterschrieben. Israel wiederum, in dem seit seiner Gründung der Ausnahmezustand herrscht, braucht Feindbilder.
Dass Israelis Angst haben, ist völlig verständlich. Dafür gibt es reale Gründe. Ich war schon als Zweijährige im Bunker und meine Tochter im gleichen Alter in einem gegen Chemiewaffen konstruierten Zelt. Nach Jahrzehnten der Zerstörung Palästinas durch israelische Streitkräfte ist auch die Angst vor Rache und Strafe unvermeidlich und real. Diese Ängste werden vor allem dadurch abgewehrt, dass man einen äußeren Feind sucht und ihn zu vernichten trachtet.
Schon vor Jahren hat die israelische Regierung die BDS-Kampagne zu einem Hauptfeind erklärt. Veranstaltungen zur israelischen Politik oder Ausstellungen zur Nakba, also zur Vertreibung der Palästinenser und der Zerstörung Palästinas, haben oft nichts mit BDS zu tun, werden aber nach dem gleichen Muster abgesagt. BDS macht aber am meisten Angst, weil man diese Bewegung nicht kontrollieren kann. Wenn viele Menschen weltweit an Lionel Messi schreiben, er solle bitte mit seiner argentinischen Mannschaft nicht in Israel spielen, dann zeigt das Wirkung. Dagegen kann Israel mit seinen Think Tanks und aller Spionagetechnologie wenig tun.
BDS ist im amerikanischen Kongress angekommen und wird seit Mitte Februar von der niederländischen Grünlinken Partei offiziell unterstützt. BDS wird Mainstream, und dagegen geht die israelische Regierung systematisch vor. […]
Gleichberechtigung ist in Deutschland selbstverständlich. Josef Schuster und Felix Klein sind fraglos der Auffassung, dass jüdische Staatsbürger hier die gleichen Rechte haben müssen wie alle anderen Staatsbürger. In Israel aber, davon sind die meisten Juden in Israel und ihre Unterstützer überzeugt, müssen Juden mehr Rechte haben als andere Staatsbürger, sonst steht Israels Existenz auf dem Spiel. Das bedeutet, dass Israel seine Bewohner nach Ethnie und Religion unterdrücken und se­gregieren muss. Das darf so nicht bleiben…
Eine deutsche Jüdin, die zur Nazizeit ausgebürgert und ihr Besitz enteignet wurde, hat das unanfechtbare Recht, nach Deutschland zurückzukommen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten und/oder dafür entschädigt zu werden. Dieses Recht Juden einzuräumen, Palästinensern aber nicht, ist schlicht eine rassistische Position. […]
Dr. Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik sprach schon vor Jahren von einem «disconnect» zwischen der deutschen Politik und der Meinung der Bürger dieser Republik. Das erleben wir täglich. Während viele Bürger unsere Arbeit unterstützen, sagen uns Politiker nur leise, dass wir so etwas sagen können, für sie solche Aussagen aber das Ende ihrer Laufbahn bedeutet. Journalisten, die es wagen, in Zusammenhang mit Israel das Wort Apartheid in ihre Tastatur zu tippen, riskieren die Kündigung. Noch fällt die Aufgabe, die israelische Politik zu kritisieren, überwiegend Juden und Israelis zu. […]

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