von Angela Klein
Noch nie ist eine Europawahl auf so großes öffentliches Interesse gestoßen wie diesmal, die Wahlbeteiligung lag europaweit bei dem Rekordwert von über 50 Prozent – in Osteuropa, wo sie bislang am niedrigsten lag, hat sie sich zum Teil mehr als verdoppelt.
Die Wahlbeteiligung sagt nichts darüber aus, wie die Menschen zur EU stehen, auch die Parteien der sog. EU-Skeptiker haben zur Wahl aufgerufen und konnten ihre Wähler mobilisieren. Europa ist schlicht eine politische Dimension geworden, die im Alltagsgeschehen immer präsenter wird – dazu haben die Flüchtlinge viel beigetragen.
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Das erste Ergebnis, das ins Auge springt, ist die fortgesetzte Erosion der sog. Volksparteien, die seit Bestehen der Europäischen Gemeinschaft stets den Ton angegeben haben. Im Europaparlament (EP) bildeten sie eine Art Dauer-GroKo. Das ist mit dieser Wahl vorbei, die Fraktionen von EVP und SPE kriegen zusammen keine absolute Mehrheit mehr. Das ist für die Willensbildung kein Problem, es lässt sich da wunderbar mit wechselnden Mehrheiten arbeiten, weil das EP ja keine Regierung wählen kann. Es ist dennoch eine Zäsur.
Die Konservativen streben in zwei Richtung, eine rückwärtsgewandte, rechtsnationale und eine liberale, die ebenfalls nach rechts strebt, aber den Weltmarkt im Auge hat und deswegen nicht einfach alle Schotten dicht machen will. Eine Volkspartei auf der Basis eines modernen Konservatismus gibt es nicht, auch die CDU wird lernen müssen, dass es nicht an Rezo liegt, wenn ihre Zahlen in den Keller gehen. Auf Kosten der Konservativen sind die Fraktionen der Liberalen und der Rechtsextremen stärker geworden.
Die Sozialdemokraten pulverisieren sich vielerorts, ebenso die Reste der KPn. Ausnahmen wie in den Niederlanden, Schweden oder auf der Iberischen Halbinsel, wo sie nochmal stärkste Partei geworden sind, bestätigen da nur die Regel. Die SPE hat knapp ein Drittel ihrer Sitze eingebüßt; die stärkste Partei darin ist jetzt die spanische PSOE.
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Die extreme Rechte ist weiter im Aufschwung, aber der Traum von Lega-Chef Matteo Salvini, drittstärkste Fraktion im EP zu werden, geht nicht in Erfüllung: Er ist der einzige geblieben, der einen steilen Aufschwung hingelegt hat. Frau Le Pen wurde erste vor Macron, stagniert aber bei 24%. Die Wilders-Partei in den Niederlanden und die Dänische Volkspartei sind eingebrochen. Die AfD lahmt, sie hat mit 11% eingestandenermaßen ihr Wahlziel von 20 Prozent nicht erreicht, in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen ist sie allerdings stärkste Partei geworden. Darüberhinaus haben noch der Vlaams Belang in Belgien und die Schwedendemokraten zweistellige Zahlen erobert; der Rest ist zu klein, um was herzumachen.
Der Selbstfindungsprozess der extremen Rechten ist auch noch lange nicht abgeschlossen, Parteien schießen aus dem Boden und stürzen wieder ab. Die Wilders-Partei z.B. ist nicht einmal mehr ins EP gekommen, sie wurde abgelöst durch eine noch windigere und noch sozialdarwinistischere Formation, das Forum voor Democratie.
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Für die Linke sind die Wahlen ein Debakel. Ihre Fraktion ist auf ein Drittel geschrumpft.
Einige Parteien haben den Sprung ins EP nicht mehr geschafft: Sinistra in Italien kommt nur noch auf 1,9%, die SP der Niederlande auf 3,4%, die PCF in Frankreich auf 2,5%. LO in Frankreich ist mit 0,8% dort, wo sie Ende der 90er Jahre schon einmal war.
Die großen Linksparteien haben fast alle Federn gelassen: Die LINKE in Deutschland kommt auf 5,5% (-1,9 Prozentpunkte), Mélenchon in Frankreich auf 6,3% (-0,3), Podemos in Spanien auf 10% (2014 holte sie 7,8%, aber da kandidierte zugleich die IU, die allein 10% holte), KSCM in Tschechien 6,9% (-4,1), VAS in Finnland 6,9% (-2,4), KKE in Griechenland 5% (-1,1), déi Lenk in Luxemburg 4,8 (-1). Die CDU in Portugal (ein Bündnis von KP und Grünen) auf ca. 6% (2014:12,7%). Lewica in Slowenien holt trotz Zuwächsen auf 6,4% keinen Sitz.
Die LINKE ist Deutschland hat prozentual in allen Bundesländern verloren, in zweistelliger Größenordnung jedoch im Osten. In absoluten Zahlen hat sie (mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz) im Westen zugelegt, im Osten hingegen verloren. Herausragend die Verluste in Berlin (-4,8 Prozentpunkte) und Thüringen (-8,7), wo sie an der Regierung beteiligt ist. Vom Niedergang der Sozialdemokratie kann sie nicht profitieren.
Es gibt auch positive Entwicklungen: Der Bloco in Portugal konnte seinen Stimmenanteil fast verdoppeln und kommt auf 9,7%. In Belgien erobert die PTB mit 5,3% einen Sitz; ebenso die Enhedslisten (Rot-Grüne-Allianz) in Dänemark (5,1%, 1 Sitz) – sie hat zum erstenmal kandidiert, da sie bislang immer die Volksbewegung gegen die EU unterstützt hat, diese ist aber von 8,1 auf 3,7% abgestürzt.
In Griechenland ist Syriza ist von 25 auf 23,7% gesunken und damit nur zweitsärkste Partei geworden, die Nea Democratia ist an ihr vorbeispaziert. Da Tsipras den ersten Platz aber zur Schickalsfrage erklärt hatte, hat er nun Neuwahlen ausgerufen. Ohnehin ist unklar, ob Syriza in der Fraktion der Linken bleibt oder zur SPE überwechselt. Die Liste Varoufakis hat mit 3% einen Achtungserfolg errungen. Die Volkseinheit LAE landet abgeschlagen bei 0,6%, ANTARSYA verharrt mit 0,7% auf gleich niedrigem Niveau.
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Der spektakulärste Gewinner der EP-Wahlen sind die Grünen, vor allem in Deutschland. Hier haben sie ihren Anteil auf 20,5% verdoppelt und sind zweitstärkste Kraft im Bund geworden. Mit einem Wahlkampf, der zwei klare Botschaften hatte: gegen Nationalismus und für das Klima, haben sie in fast 50 Städten (darunter einigen Kreisen) den ersten Platz geholt. Sogar in den ostdeutschen Bundesländern sind sie mit 14% drittstärkste Kraft hinter CDU und AfD.
Die Tage der Großen Koalition dürften damit gezählt sein – ohnehin wird sie auch in den eigenen Parteien immer unbeliebter. Man wird die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Herbst noch abwarten, doch dann sind Neuwahlen und Jamaika möglich. Die Koalitionsbildung nach der Bürgerschaftswahl in Bremen deutet bereits darauf hin. Dort hatte Die Linke schon auf Rot-Rot-Grün spekuliert, doch die Verluste der SPD haben diese Hoffnung zunichte gemacht.
Die Grünen haben mit ihren Themen zweifellos den Nerv der jungen Generation getroffen. Selbst unter jungen GewerkschafterInnen ist Grün mit knapp 24% die stärkste Wahlpräferenz; auch bei Gewerkschaftsfrauen liegen sie mit 23% vorn und unter Gewerkschaftsmitgliedern allgemein sind sie mit 18% die drittstärkste Kraft. Die Zeiten, wo Gewerkschaft und Grün sich spinnefeind waren, sind vorbei.
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Was sagt uns das? Zwei Dinge:
1. Mit einer platten Raus-aus-der-EU-Position erreicht man die jungen Leute nicht. Da muss erarbeitet werden, was die Linke bislang nicht vorzuweisen hat: eine konkrete Vision für ein soziales und ökologisches Europa.
2. Ökosozialismus ist oberstes Gebot. Die soziale Frage hat sich nicht erledigt, sie stellt sich aber neu angesichts der Herausforderung, dass bei einer drohenden Zunahme der Massenerwerbslosigkeit nicht einfach die alten Arbeitsplätze verteidigt, sondern neue und nachhaltige geschaffen werden müssen. Ein Bündnis von Arbeit und Umwelt müsste zu schmieden sein. Von den Grünen ist das nicht zu erwarten.
Alle Ergebnisse der EU-Wahlen auf sozonline.de: Ergebnisse EU-Wahlen 2019
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