von Serdar Kazak
Vor den Kommunalwahlen vom 31.März hatte Erdogan persönlich gesagt: «Wenn wir in Istanbul stolpern, fallen wir in der Türkei um.» Nun ist es soweit.
Laut Angaben der Hohen Wahlkommission hat Ekrem Imamoglu, der Kandidat der oppositionellen CHP, in der Stadt am Bosporus einen Vorsprung von etwa 17000 Stimmen erreicht.
Die sog. offiziellen Wahlergebnisse sind eigentlich genauso erstaunlich wie die Wahlverluste der AKP in Istanbul. Die Hohe Wahlkommission ist theoretisch ein parteiloses, neutrales Amt. Dem ist aber nicht so. Mindestens seit der Volksabstimmung 2010 steht es, genauso wie die Justiz, die Armee und die Universitäten, unter der direkten Kontrolle der Regierung, besser gesagt des Präsidenten. Dass er sich überhaupt traut, die AKP nicht zum großen Sieger zu erklären, ist an sich schon ein Wunder. Woran es liegt, können wir noch nicht wissen. Wir können aber ahnen, dass Erdogans Bürokraten keine Lust haben, zusammen mit dem Despoten unterzugehen.
An dieser Stelle darf nicht übergangen werden, dass die halbwegs sozialdemokratische CHP ihren Wahlsieg zu einem großen Teil der kurdischen HDP verdankt. Ohne deren Unterstützung und Verzicht auf die Kandidatur, hätten die Zahlen ganz anders ausgesehen.
Die Ergebnisse
Den offiziellen Angaben zufolge hat die AKP landesweit 44 Prozent der Stimmen bekommen, die größte Oppositionspartei CHP hingegen 30 Prozent. Die CHP hat 21 Städte erobert. In den Städten, in denen sie gewonnen hat, leben rund 40 Millionen Menschen. Es sind meist Metropolen und große Städte. Hingegen hat die AKP 39 Städten erobert. Diese haben eine Bevölkerungszahl von 32 Millionen. Hinzu kommen 11 Städte, in denen die faschistische MHP gewonnen hat. In diesen Städten leben 4,5 Millionen Menschen. Die HDP hat in 8 Städten gewonnen mit zusammen knapp 5,5 Millionen Einwohner. Dersim, die Stadt, in der die TKP gewonnen hat, hat 88000 Einwohner.
Wenn wir diese Zahlen berücksichtigen, scheint es nicht besonders wahrscheinlich, dass die AKP landesweit einen Vorsprung von 14 Prozent erzielt haben kann. Es sei denn, es geschah ein statistisches Wunder.
Istanbul
Was Istanbul betrifft, hat Erdogan recht. In dieser Stadt wohnt fast ein Viertel der Bevölkerung der Türkei. Wegen der hohen Binnenmigration leben hier Menschen aus allen Regionen des Landes. Noch dazu ist diese Stadt ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, nicht nur für die Türkei, auch für das gesamte Gebiet zwischen Balkan und Mittlerem Osten. Der Oberbürgermeister von Istanbul kontrolliert nach dem Präsidenten das zweitgrößte Budget.
Aus diesem Grund kann Erdogan es sich nicht leisten, die Stadt kampflos aufzugeben. Der Verlust von Istanbul kann irgendwann zum Verlust der Macht führen. Die Beurkundung von Imamoglu als dem neuen Bürgermeister wurde vorläufig abgelehnt mit der Begründung, die Stimmen müssten erneut ausgezählt werden. Islamistische Zeitungen fordern sogar dazu auf, den Bürgermeister von Istanbul vom Präsidenten ernennen zu lassen.
Zuerst hat die AKP Einspruch gegen die Wahlergebnisse eingelegt. Das hat aber nicht gereicht. Als man die Stimmen ein zweites Mal gezählt hat, war der Stimmenanteil der Opposition noch größer. Jetzt möchte Erdogan, dass die Wahl in Istanbul annulliert und in 60 Tagen neu gewählt wird. Inzwischen hat die Hohe Wahlkommission die gewählten Bürgermeister, auch in Istanbul, anerkannt. Das kann eine Trotzhaltung gegen die AKP sein, vielleicht traut sich die Regierung aber doch nicht, nochmal einen Wahlkampf in Istanbul zu führen.
Die Kurdengebiete
In den kurdischen Gebieten hatte die HDP im Vergleich zur letzten Wahl deutliche Stimmenverluste zu verzeichnen. Dennoch konnte sie sich in einigen Städten behaupten.
Die Verluste der HDP haben mehrere Gründe. Erstens war es sehr schwer für sie, Wahlpropaganda zu machen. Die Regierung hat die kurdische Bevölkerung zudem massiv schikaniert und eingeschüchtert. Dadurch ist ihre Wahlbeteiligung gesunken. Gleichzeitig wurden Soldaten und Polizisten, die in dem Gebiet leben, mit staatlichen Mitteln massenweise zur Urne geschleppt. Diese künstlich geschaffenen Verhältnisse haben am Ende eine große Rolle gespielt. Noch dazu ist diese Region der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit weit entrückt und es ist nicht so einfach, «Unregelmäßigkeiten» bei der Wahl zu kontrollieren. Die Gegend stand offen für staatlich organisierten Wahlbetrug. Trotzdem haben die HDP-KandidatInnen in acht Provinzzentren die Wahl gewonnen.
Der Staat weigert sich trotzdem, diese anzuerkennen. Seine Erklärung ist ziemlich kurz: «Diese Menschen unterstützen den Terror und sind nicht als Bürgermeister geeignet.» Warum durften «diese Menschen» dann kandidieren? Darauf geben die staatlichen Organe keine Antwort.
Ein interessantes Ergebnis wurde in der kurdischen Stadt Dersim erzielt. Dort hat der Kandidat der TKP sich gegen die HDP durchgesetzt und die Wahl gewonnen. Das ist eine sehr interessante Entwicklung. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei hat eine Provinzzentrale einen kommunistischen Bürgermeister. Da die Stadt Dersim und die TKP eigentlich so klein sind, besteht für die Regierung keine Gefahr. Aus diesem Grund lief der Amtsantritt des kommunistischen Bürgermeisters relativ unspektakulär ab.
Was die AKP sich in Istanbul und in einigen kurdischen Städten leistet, ist ein putschähnlicher Angriff des Staates auf die bürgerliche Demokratie. Dies kann eine neue Perspektive in der Politik der Türkei eröffnen. CHP und HDP haben nun die Möglichkeit, gemeinsam gegen die Aberkennung der Mandate vorzugehen. Durch ihre Unterstützung der CHP in der Westtürkei hat die HDP ihren guten Willen gezeigt. Sie erwartet jetzt die gleiche Vernunft von der kemalistischen CHP.
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