von Dieter Schulze-Marmeling
„Seine größte Stärke ist die Schwäche der anderen“, schrieb vor einigen Monaten Catarina Lobenstein über Kevin Kühnert in der „Zeit“. Die letzten Tage haben diese Einschätzung bestätigt. Deutschlands politische Elite hinterlässt in der Auseinandersetzung mit dem 29-Jährigen einen erbärmlichen Eindruck. Dies gilt auch für Teile von Kühnerts eigener Partei. Und das ist nicht gut für die politische Streitkultur.
Hans-Peter Friedrich (CSU) ist Vize-Präsident des deutschen Bundestags und somit ein Repräsentant unserer Demokratie. Der Mann ist außerdem Jurist. Wer Friedrich auf Twitter verfolgt, sehnt sich allerdings nach Norbert Lammert zurück, jenem aufrechten Konservativen und Demokraten, der von 2005 bis 2017 Präsident des Bundestages war. (Ich hatte schon damals das Gefühl: Sein Abgang ist für die politische Kultur dieses Landes eine Zäsur.) Zum Thema Kühnert twitterte Friedrich im Stile eines Stammtischbruders: „Warum regen sich alle auf? Wenn einer nichts gelernt hat, nichts kann und nicht arbeiten will, dann muss er doch für Enteignung sein, wenn er zu etwas kommen will.“ Hoho! Ganz abgesehen davon, dass Friedrich Kühnerts Interview in der „Zeit“ offensichtlich nicht gelesen oder verstanden hat (Kühnerts Aussagen klingen ein bisschen wie der Bibel entnommen, die einem CHRISTdemokraten nicht fremd sein sollte) - – mit Enteignung (das Wort kommt bei Kühnert nicht vor) droht u.a. der Freistaat Bayern, beispielsweise beim Straßenbau. Und die Struktur des teil-staatlichen VW-Konzerns hat vielleicht mit der DDR mehr gemeinsam, als Kühnerts Vergesellschaftungs-Utopien.
Friedrichs „nicht arbeiten will“ bezieht sich auf Kühnerts Berufspolitikerdasein. Demnach arbeitet Friedrich spätestens seit 1991 nicht mehr. In jenem Jahr wurde er Berufspolitiker. Friedrich stellte also im Alter von 34 Jahren das Arbeiten ein.
Kevin Kühnert hat in seinem Leben bislang mehr gearbeitet als Phillip Amthor, Hoffnungsträger der Werte-Unionisten. Amthor ist wie Kühnert ein politisches Naturtalent und eine Bereicherung für den politischen Diskurs. Er war erst 25, als er in den Bundestag einzog. Überträgt man Friedrichs Kühnert-„Kritik“ auf Amthor, hat dieser noch nie „richtig gearbeitet“. Gut, Amthor hatte studiert und exzellente Abschlüsse gemacht. Aber als jemand, der in einer Bergbaugemeinde aufgewachsen ist, habe ich gelernt, dass für den kernigen Industriearbeiter und Gewerkschafter Studieren nix, aber auch gar nix mit Arbeiten zu tun hat.
Der 29-jährige Kevin Kühnert weiß möglicherweise mehr über unsere Gesellschaft, deren Probleme und das reale Leben, als der 62-jährige Hans-Peter Friedrich. Kühnert hat ein Freiwilliges (!) Soziales Jahr absolviert und dreieinhalb Jahre in einem Call-Center gearbeitet (ein Drecks-Job!). So kommt man natürlich nicht zu einem Porsche. Kühnert ist Fußballfan, bei Tennis Borussia Berlin leitete er die Fanabteilung und kommentierte Spiele fürs Vereinsradio. Catarina Lobenstein in der „Zeit“: „Der Fußball habe aus ihm einen politischen Menschen gemacht, sagt er. Früher waren viele Vereinsmitglieder Juden, heute kommen viele aus türkischen Familien. Bei Auswärtsspielen in Brandenburg sei er häufig von Neonazis empfangen worden: ‚Juden ins Gas, Kanaken aus Berlin, Lila-Weiß ist schwul – das waren so die klassischen Gesänge.‘ Damals habe er gelernt, dass Freiheit erkämpft werden müsse, dass sie nicht selbstverständlich sei.“ Ein kritischer und engagierter Fan spielt nicht im Bällchenbad, schon gar nicht, wenn sein Klub TeBe heißt und im „wilden Osten“ auflaufen muss. Zum Sound von Rassisten, Antisemiten und Schwulenhassern. Die kritische, politisch und sozial engagierte Fan-Szene ist bereits seit Jahren ein Sammelbecken für kreative Jugendliche, die in unserer Gesellschaft etwas bewegen wollen. Eigentlich ein ideales Rekrutierungsfeld für demokratische Parteien – sofern man tatsächlich an einem qualifizierten Nachwuchs interessiert ist.
Kühnert hat keinen Universitätsabschluss, weil er Berufspolitiker wurde. Joschka Fischer, unser ehemaliger Außenminister, hatte nicht einmal einen Schulabschluss. (In Nordirland wurde das Bildungsministerium von 1992 bis 2001 von einem Schulabbrecher geführt. Es gibt Menschen, die halten ihn noch heute für den besten Bildungsminister in der Geschichte der Provinz – der Mann wusste einfach besser als andere, was am Bildungssystem falsch und reformbedürftig war.)
Fischer war ein Autodidakt mit wechselnden Berufserfahrungen. Uli Hoeneß, Studienabbrecher und ohne Berufsausbildung, kürte ihn mal zum besten Außenminister in der Geschichte der Bundesrepublik. Fischers Englischkenntnisse sind zweifellos besser als die des Juristen Günther Oettinger. Dies betrifft auch die Aussprache.
Was sagt Hans-Peter Friedrich einem jungen Start-Up-Unternehmer ohne Universitätsabschluss, der der CSU eine Spende überreichen möchte? „Machen Sie erst einmal einen Abschluss, junger Mann!“ Der junge Mensch hatte keinen Bock auf Uni, wohl aber eine geniale Idee, mit der er Arbeitsplätze schuf und einen gewissen Wohlstand anhäufte. Noch einmal zurück zu Fischer: Der arbeitete nach seiner Politikerkarriere als Lobbyist für große Unternehmen - u.a. für BMW…
Zum „Fall Scheuer“. Der Bundesverkehrsminister ist mittlerweile wirklich zu einem „Fall“ geworden. Scheuer wurde mit 28 Jahren MdB, hatte vorher nicht gearbeitet, sondern nur studiert. Scheuer über Kühnerts Utopien: „Das ist ein verschrobenes Retro-Weltbild eines Fantasten, der irgendwie mit dem System hier nicht zufrieden ist.“ Nun gibt es eine Menge Leute, die mit „dem System hier“ nicht zufrieden sind. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Aber der hiesigen Mobilitätsdebatte wäre extrem geholfen, wenn Scheuer in seinem Job mehr Fantasie erkennen ließe, als beim Schreiben seiner sogenannten Doktorarbeit. Dabei sollte er sich von Albert Einstein leiten lassen: "Wenn eine Idee nicht zuerst absurd erscheint, taugt sie nichts." Vielleicht versteht er dann, was ihm Kühnert voraus hat.
Was wir im Augenblick erleben, ist, dass junge Menschen, die sich politisch engagieren und sich Gedanken über die Zukunft machen, tragfähige und weniger tragfähige, zurück ins Bällchenbad geschickt werden. Von Politikern, die selber nicht dazu in der Lage sind, auf die drängenden Fragen der Gegenwart und Zukunft eine Antwort zu geben. Da muss man sich nicht wundern, wenn junge Menschen keinen Bock auf ein parteipolitisches Engagement verspüren. Und vielleicht auch keinen Bock auf Wahlen, wo man Menschen seine Stimme geben soll, die einem bei nächster Gelegenheit bedeuten: „Misch dich nicht ein!“
Wie es Christian Lindner getan hat. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sich Lindner an die junge Generation heran wanzte. Nun bestellt Lindner klimastreikenden Schülern, sie sollten das Thema Klimaschutz gefälligst „den Profis“ überlassen. (Die wahren „Profis“, also die Wissenschaftler, gaben ihm dann eine schallende Ohrfeige.) Besser kann man den Job des Berufspolitikers nicht diskreditieren.
Mag sein, dass die SPD wegen Kühnert bei den kommenden Wahlen Stimmen verliert. Aber sie wird auch noch aus anderen Gründen Stimmen verlieren. Der von Opportunismus und Panik geprägte Umgang mit Kühnert lässt die SPD inhaltlich als ziemlich leer erscheinen. Anstatt sich mit Kühnert inhaltlich auseinanderzusetzen, lässt man sich von dem Stoff treiben, den „Bild“ und Politiker anderer Parteien aus seinen Aussagen geformt haben. Das ist schlecht, ganz schlecht. Und nicht nur für die SPD.
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