von Hermann Dierkes
Am 15.Mai protestierten eine Million Studierende und das Universitätspersonal in über 200 Städten gegen 30prozentige Mittelkürzungen für Bundesuniversitäten, Fachhochschulen und Forschung. Die Regierung Bolsonaro wurde dadurch ganz erheblich unter Druck gesetzt.
Die Proteste sollten bis zum 30.Mai noch gesteigert werden. Sie wären dann eine Steilvorlage für die gewerkschaftlichen Großdemonstrationen und Streiks gegen die geplante Konterreform bei Renten und Sozialleistungen, die für den 14.Juni vorbereitet werden.
Bolsonaro hatte die Protestierenden als «nützliche Idioten» für politische Gegner heruntergemacht. Guilherme Boulos von der Wohnungslosenbewegung und ehemaliger Präsidentschaftskandidat der linken PSOL bezeichnete Bolsonaro im Gegenzug auf einer Kundgebung als «nutzlosen Idioten im Präsidentenamt». Das trifft eine sich ausbreitende Stimmung in Brasilien.
Kaum fünf Monate nach Amtsantritt zeigt sich der Bolsonarismus an der Macht zerfahren, von Skandalen geplagt und inkompetent. Die Regierung streitet über Orientierung, Politikstil, Bündnisfragen und Personalien. Einige unter den zahlreichen Ex-Militärs in der Regierungscrew erscheinen geradezu besonnen gegenüber den eingefleischten Bolsonaristen und den in kriminelle Machenschaften verwickelten Söhnen des Präsidenten. Auch im Kongress sind Bolsonaristen und Bündnispartner zerstritten. In wichtigen Fragen ist eine Einigung nicht in Sicht.
In diesen Tagen laufen eine Reihe von Präsidialdekreten ersatzlos aus, wenn sie vom Kongress nicht bestätigt werden – etwa die Verringerung der Zahl der Ministerien von 29 auf 22. Immer wieder gibt es öffentliche Kontroversen mit dem Teil der Justiz, der nicht ins Bolsonaro-Lager abgedriftet ist. Großspurige Wahlversprechen wie der umfassende «Kampf gegen die Korruption» erweisen sich als Seifenblasen. Mehr noch, unter den Bolsonaristen und ihren Partnern sind zahlreiche weitere Fälle von Korruption, Wahlmanipulation und Vergeudung öffentlicher Mittel aufgeflogen.
Die oberste Justizbehörde in Rio de Janeiro hat vor kurzem verfügt, dass das Bankgeheimnis von Bolsonaros ältestem Sohn Flávio (derzeit Senator) sowie von über 90 weiteren Personen aufgehoben ist und die Informationen in die Strafermittlungen einbezogen werden können. Er steht nicht nur im Verdacht massiver Geldwäsche und des Missbrauchs von Parlamentsgeldern für Scheinarbeitsverhältnisse, sondern wird auch auch als mindestens mitverantwortlich fuer etliche Morde der sog. Milizen in den Slums von Rio verdächtigt, denen im März letzten Jahres auch die Stadtverordnete der PSOL, Marielle Franco, und ihr Fahrer zum Opfer gefallen sind.
Es bröckelt
Bolsonaro und seine meteorhaft zur zweitstärksten Fraktion im Kongress aufgestiegene Partei PSL haben es bisher nicht geschafft, eine verbindliche Koalition aus Zentrum, rechten Kleinparteien und Evangelikalen zusammenzuzimmern. Und im Gegensatz zu dem pompösen Wahlversprechen, eine «neue Politik» einzuführen und das «Geben und Nehmen» (den Stimmenkauf) bei den Abgeordneten auszumerzen, ist genau das auch weiterhin Praxis.* So will die Regierung den Abgeordneten jeweils 40 Mio. Reais zur Verfügung stellen, wenn sie der Rentenverschlechterung zustimmen.
Sie schießt aus allen Rohren gegen die zögerlichen Vertreter des «Centrão», des starken Parteiblocks der «Mitte», auf den sie allerdings angewiesen ist, sowie gegen den Vizepräsidenten Mourão und weitere Militärs in der Regierung. Aber die Schlinge zieht sich offenbar zu. Mitte Mai kam interne Korrespondenz an die Öffentlichkeit, wonach Bolsonaro und seine engste Umgebung bereits von der «Unregierbarkeit» Brasiliens reden.
Der «Kampf gegen die Gewalt im Land» hat trotz Präsidialdekret über den erleichterten Waffenbesitz keinerlei Erfolge aufzuweisen. Die meisten Opfer gehen weiterhin auf das Konto von Polizei und kriminellen Banden. Ein Paket zur Strafrechtsreform – das u.a. Polizeigewalt unter Schutz stellen soll – steckt im Kongress fest.
Die Wirtschaft taumelt zwischen Stagnation und Depression, obwohl – oder gerade weil – der Bolsonarismus die antisoziale Politik der Vorgängerregierung Temer und der bürgerlichen Mitte weiter verschärft hat. Der geplante Rückzug aus dem Mercosul (den Gemeinsamen Markt Lateinamerikas) und eine erneute enge Bindung an das US-Kapital sind auch im Großbürgertum keineswegs Konsens. Die Erwerbslosigkeit ist deutlich gestiegen.
Flucht nach vorn
Um den Massenprotesten etwas entgegenzusetzen und das «Präsidentenlager» zusammenzuführen, versucht der harte Kern des Bolsonarismus nun eine riskante Flucht nach vorn. Am 26.Mai rief er zu Sympathiekundgebungen für den Präsidenten und die «neue Politik» – gegen die Parteien der Mitte und das Bundesgericht auf. Diese übertrafen allerdings nicht die Proteste von Studierenden und Lehrpersonal gegen die Kürzungen im Bildungsbereich. Nicht zuletzt, weil wichtige Akteure aus dem bürgerlichen Lager nicht mit aufgerufen hatten.
Die nächsten Massenproteste gegen Bolsonaro werden voaussichtlich noch größer werden als die vom 15.Mai. Deren bisheriges Ausmaß hat gezeigt, dass in Brasilien immer noch ein großes linkes Widerstandspotenzial vorhanden ist, vor allem bei der Jugend. Ob Bolsonaro dann schon als angezählt gelten kann, wird sich zeigen.
* Lula hingegen sitzt nach äußerst dubiosen Prozessen seit über einem Jahr im Gefängnis. Richter Moro, der die entscheidende Rolle dabei gespielt hat, den aussichtsreichsten Konkurrenten Bolsonaros bei der Präsidentschaftswahl 2018 aus dem Weg zu räumen, wurde dafür mit dem Justizministerium belohnt.
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