von Kurt Hofmann
Kurz vor den Europawahlen vermochte das Filmfestival Crossing Europe, auch in seiner 16.Ausgabe zu überzeugen. Hier eine Auswahl.
Irina von Nadejda Koseva
In Orten wie diesen, mit wegradierter Infrastruktur und ewiggleichen Tagen, ist Europa unbekannt: Das Kaff, in dem Irina aufgewachsen ist und noch lebt, hat möglicherweise bessere Tage gesehen, bevor die Kohlemine stillgelegt wurde. Doch nun können die Ansässigen bloß noch zwischen Gleichgültigkeit und Wut wählen. Irina kellnert in einem heruntergekommenen Lokal, daheim warten ihr arbeitsloser Mann Shaso, der aus dem Schacht illegal Kohle rauskratzt, ihr einjähriges Kind und ihre Schwester.
Irina lässt sich nicht herumschubsen, da wie dort. Das führt dazu, dass sie in der «Bar» gekündigt wird und sich von dem Möchtegernpascha Shaso absetzen will, als sie diesen auch noch mit ihrer Schwester erwischt. Aber Shaso wird Opfer eines «Unfalls», der Stollen kracht über ihm zusammen, nicht zufällig, denn er hat einen «Konkurrenten» beim Versuch, die letzten Reste Kohle zu bergen. Die Folge dieses Sabotageakts ist der Verlust seiner Beine.
Irina recherchiert im Internet, wie sie rasch zu Geld kommen könnte, und wird in einer Onlineanzeige fündig: Ein kinderloses Paar sucht eine Leihmutter. Dessen Plan ist gut durchdacht, umschifft die Gesetzeswidrigkeit des Vorhabens ebenso wie mögliche Einwände der zu mietenden Kindesmutter. Man kommt aus gutbürgerlichen Verhältnissen und lebt in der Stadt, der Vertragspartnerin aus der Provinz wird ein Zimmer eingerichtet, in dem sich auch stets frische Äpfel befinden – an apple a day keeps the doctor away. Irinas neue «Arbeitgeber» wollen ihr jeden Schritt vorschreiben und sie beobachten sie gleich einem exotischen Tier im Zoo…
Nadejda Kosevas Irina (Bulgarien 2018) zeigt eine, die sich nicht unterkriegen lässt. Da ist ein Aufbegehren in Irina, gegen einen vorgezeichneten Lebenslauf ebenso wie gegen die Kolonisierung ihres Körpers. Worte wie Fremdbestimmung oder Menschenwürde finden sich nicht in ihrem Vokabular, doch sie hat begriffen, weshalb sie dem nicht folgen darf, was andere von ihr erwarten.
Sons of Denmark von Ulaa Salim
2025: Die extreme Rechte steht in Dänemark vor der Machtergreifung. Ein Jahr davor hatte ein Bombenanschlag 23 Menschen das Leben gekostet. Kurz danach erfolgte die Gründung des «National Movement», einer auf Hetze und Ausgrenzung setzenden Partei. Seitdem: rassistische Übergriffe gegen die «anderen». Diese «Arbeit» erledigen die «Sons of Denmark», eine ultrarechte illegale Miliz für die Partei, die sich ahnungslos gibt…
Die Stimmung vor den Wahlen ist aufgeheizt, ein klarer Sieg des National Movement vorhersehbar. Eine kleine verschworene Gruppe plant einen Anschlag auf Martin Nordahl, den Spitzenkandidaten des National Movement. Doch das Vorhaben scheitert, denn ein Beteiligter namens Ali ist ein Agent provocateur… Danach soll Ali helfen, einen Agenten bei den Sons of Denmark einzuschleusen, aber bald schon muss er feststellen, dass diese Aktion für den Inlandsgeheimdienst keineswegs oberste Priorität hat…
Die Rechte vor der Machtergreifung. Rassistische Parolen, ein aufgeheiztes Klima: Was Ulaa Salim in Sons of Denmark (Dänemark 2019) im Jahr 2025 ansiedelt, ist bekanntermaßen keineswegs Science Fiction und die Inhalte der Reden des National-Movement-Führers Martin Nordahl, der «Dänemark den Dänen» zurückgeben möchte, klingen gefährlich vertraut. Ulaa Salim ist mit Sons of Denmark ein Politthriller mit «Ecken und Kanten» gelungen. Etwas ist faul im Staate Dänemark – und leider nicht nur dort…
Reise nach Jerusalem von Lucia Chiarla
Alice hat gelernt, in der «Besten aller Welten» zu leben. Sie hat diese als Texterin oft genug beworben. Jung, schick, erfolgreich, durch nichts aus der Bahn zu werfen – was für eine Perspektive! Blöd nur, dass sich nach ihrer Kündigung niemand für sie interessiert. Ihre Imagekampagnen in eigener Sache bleiben ohne Resonanz im allgegenwärtigen Internet, sie ist eine Selbständige mit leerem Konto. Doch Alice inszeniert sich als erfolgreich und vielbeschäftigt – Simulation ist Trumpf. Selbst ein Nebenjob bei einem Marktforschungsinstitut, bei dem sie als falsche Kundin andere zum Produktkauf animieren soll, bringt ihr kein Geld, sondern bloß Benzingutscheine. Auf einen Brief ihres Vermieters, der Konsequenzen wegen ausbleibender Zahlungen ankündet, reagiert sie mit der Behauptung, sie sei auf Reisen…
Aufschieben, verstecken, in Deckung gehen, aber ja nicht die Contenance verlieren, das ist Alices Motto. Leider lassen sich weder das Arbeitsamt mit seinen absurden Kursangeboten noch die nervenden Eltern mit deren Neugierde nach dem Leben der Tochter völlig ausblenden. Aber auch hier bemüht sie sich, eine andere zu sein, um «sie selbst» zu bleiben… Doch als endlich ein möglicherweise aussichtsreiches Bewerbungsgespräch ansteht, bricht sich Alice einen Zahn aus…
Alice in Wonderland: Motivation ist alles, jede Hürde kann überwunden werden – so hat Alice es gelernt. Anderen etwas vorzuspielen, ist schon schwierig genug, wenn all das nicht der Realität entspricht. Sich selbst ständig etwas vorzuspielen, ist eine noch weit anstrengendere Übung… Lucia Chiarlas Reise nach Jerusalem (BRD 2018), ein Höhepunkt des diesjährigen «Crossing Europe», ist eine Komödie über den Widerspruch zwischen Schein und Sein. Das Scheitern von Alice hat auch mit deren Verwurzelung in einer Welt zu tun, in der Scheitern schon als Begriff nicht vorkommt.
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