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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2019
Die Anti-BDS-Entschließung des Bundestags ist undemokratisch
von Shir Hever

In einer Entschließung vom 17.Mai hat der Bundestag die BDS-Bewegung als antisemitisch verurteilt. Auf dieser Basis lässt sich jede israelkritische Veranstaltung verbieten – auch wenn sie gar nichts mit BDS zu tun hat.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán definiert sein Land als «illiberale Demokratie». Ähnliche rechtsautoritäre Politik sehen wir in Brasilien, Indien, den Philippinen, Polen und den USA. Überall dort werden kritische Stimmen, progressive Organisationen, Medien und wichtige Bereiche der Justiz als «Vaterlandsverräter» beschimpft, damit diese Regierungen ihre Macht ausbauen und Widerstand gegen ihre Politik kleinhalten können.
Rechtsautoritäre Regierungen haben viele Gemeinsamkeiten, vor allem die bedingungslose Unterstützung für den Staat Israel und seine Politik und persönliche Freundschaften mit dem israelischen Ministerpräsident Binyamin Netanyahu.
Als Trump US-Präsident wurde, haben viele internationale Medien Deutschland und Kanzlerin Angela Merkel als neue Führung der liberalen Welt gesehen. Doch spätestens mit der Entschließung des Bundestags gegen BDS wurde die liberale Demokratie in Deutschland heftig angegriffen.

BDS – eine liberale Bewegung
Zunächst müssen wir uns klarmachen, was die Unterschiede zwischen liberalen und illiberalen Demokratien sind. Beim Liberalismus geht es um Individualismus in der kapitalistischen Gesellschaft. Eine liberale Demokratie ist kein Mehrheitsregime, sondern ein politisches System, das Minderheiten vor der Macht des Staates schützt. Deswegen geht illiberale Politik zuerst gegen die Mechanismen vor, die die Macht des populistischen Autoritarismus begrenzen können: gegen wichtige Medien, Gerichte und Menschenrechtsorganisationen.
Laut Transparency International sind 40 Prozent der populistischen und autoritären Staatschefs mit Korruptionsverfahren konfrontiert. Deshalb führen sie Kampagnen gegen die Justiz mit der Begründung, «das Volk hält uns für unschuldig, sonst hätte es uns nicht gewählt». Während liberale Demokraten Schwache und Verfolgte gegen staatliche Übergriffe verteidigen, stehen die Illiberalen immer an der Seite der Starken und gegen die Schwachen.
Was hat das mit dem Bundestagsbeschluss gegen BDS zu tun? BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) ist eine Basisbewegung für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie hat drei Ziele: (1) das Ende der israelischen Besatzung arabischen Landes; (2) gleiche Rechte für alle israelischen Staatsbürger; (3) Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge und Vertriebenen. Diese drei Ziele sind prinzipiell im Völkerrecht verankert und stützen sich auf UNO-Resolutionen.
BDS verwendet eine liberale Sprache: Die Palästinenser und die zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sie unterstützen, setzen sich gewaltlos gegen israelische Besatzung, Apartheid und Kolonialismus zur Wehr und verteidigen die Rechte der Schwachen. Der Journalist Glenn Greenwald – bekannt geworden durch sein berühmtes Interview mit Edward Snowden – schrieb bereits 2016, dass der Versuch, BDS zu kriminalisieren, die größte Gefahr für die Meinungsfreiheit darstellt.

Antisemitismus auf den Kopf gestellt
Die israelische illiberale Regierung streitet mit jüdischen Gemeinden überall in der Welt. Jüdinnen und Juden, die in vielen Ländern als religiöse Minderheit leben, haben natürlich eine Interesse daran, liberale Werte zu unterstützen. Die meisten Juden unterstützen liberal-demokratische Parteien, viele sogar die BDS-Bewegung, weil sie sich mit ihren Werten identifizieren können.
Aber israelische Juden verteidigen ihre Privilegien und die Ungleichheit in Israel/Palästina durch militärische Macht, nicht durch liberale Werte. Netanyahu trägt illiberalen Politikern in aller Welt seine Freundschaft an, solange wie sie den Staat Israel unterstützen. Im Gegenzug können sich illiberale Politiker wie Orbán in Ungarn, Le Pen in Frankreich und die AfD in Deutschland gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigen, indem sie auf ihre Unterstützung für Israel verweisen.
2012 erklärte Netanyahu, alle, die BDS unterstützen, seien Antisemiten. 2015 hat er sogar behauptet, nicht Adolf Hitler habe den Massenmord an den Juden ersonnen, sondern der palästinensische Religionsführer Haj Amin El-Husseini. Damit wollte Netanyahu die Schuld am Holocaust und für den Antisemitismus auf palästinensische Schultern abladen. Das war für deutsche Politiker ein willkommenes Geschenk, denn wenn die Palästinenser die «echten» Antisemiten sind und BDS eine «echte» Form von Antisemitismus, dann sind die weißen christlichen Deutschen von ihrer Verantwortung befreit.
Dazu passt, dass laut Bundesinnenministerium 90 Prozent der Angriffe auf Jüdinnen und Juden in Deutschland von rechts (also von antidemokratischen und illiberalen Tätern) ausgehen. Dagegen hat der Bundestag aber nichts unternommen, er wendet sich vor allem gegen demokratische und liberale MenschenrechtaktivistInnen.

Wer ist Antisemit?
In einer liberalen Demokratie dürfen die Opfer von Verbrechen selber entscheiden, wie man Rassismus und Hass gegen sie definiert. Nicht so in einer illiberalen Demokratie. Dort entscheiden die Mächtigen anstelle der (betroffenen) Minderheiten.
In einer absurden Bundestagsdiskussion haben nun Enkel von Nazis definiert, was «Antisemitismus» sein soll. Zahlreiche Stellungnahmen haben dagegen protestiert, u.a. eine von mehr als 200 jüdischen Holocaust- und Antisemitismusforschern und eine von über 2000 in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Beide Stellungnahmen haben vor der Gleichsetzung von BDS und Antisemitismus gewarnt.
Die Tatsache, dass die meisten Bundestagabgeordneten diese Proteste ignoriert haben, beweist, wie illiberal die deutsche Politik geworden ist. MenschenrechtaktivistInnen (viele davon Jüdinnen) wurden als «Antisemiten» definiert. Dadurch wurde der Begriff in seiner Bedeutung verdreht und entwertet.
In seinem Entschliessungstext hat der Bundestag die «Arbeitsdefinition der IHRA» (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) von Antisemitismus übernommen. Aber diese Definition konzentriert sich auf die Kritik am Staat Israel und ignoriert praktisch den Hass gegen Juden. Auf dieser Grundlage behauptet die Entschließung, Antisemitismus bedeute u.a., das Existenzrecht des «demokratischen» Staates Israel in Frage zu stellen. Sie führt aber keine substanzielle Begründung an, warum BDS antisemitisch sein soll. Es heißt da lediglich, dass die «Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung antisemitisch» seien.
Doch die «Argumentationsmuster und Methoden» der BDS-Bewegung sind direkt von historischen Boykottbewegungen inspiriert: vom gewaltlosen Widerstand und Boykott britischer Produkte durch Mahatma Ghandi in Indien; die Boykottkampagne von Martin Luther King in den USA; die Boykottkampagne von Nelson Mandelas ANC (African National Congress) gegen die Apartheid in Südafrika. Nach der Logik des Bundestags muss man zum Schluss kommen, dass alle diese Kampagnen für Gerechtigkeit und Freiheit im Widerspruch zur heutigen deutschen Politik stehen.

Der Nazivergleich
Weiter heißt es in der Entschließung, BDS erinnere an die Naziparole «Kauft nicht bei Juden». Aber BDS hat mit dem Naziaufruf nichts zu tun, weil Boykott immer eine Waffe der Schwachen gegen die Starken ist. Die Nazis haben sogar behauptet, dass die Juden die Welt beherrschten. Wenn nun der Bundestag diese Behauptung zurückweist, wieso sieht er Ähnlichkeiten mit BDS? Mir scheint, dass die Bundestagsmehrheit diesen Satz akzeptiert hat, weil BDS in Wahrheit Erinnerungen an den Holocaust weckt, die man lieber vergessen will.
Der FDP-Abgeordnete Frank Müller-Rosentritt rechtfertigte die Haltung seiner Partei in einem Schreiben an die Initiatoren einer Unterschriftensammlung gegen die Gleichsetzung von BDS und Antisemitismus. Müller-Rosentritt bezeichnet darin die FDP als «liberale» Partei und weist den Vorwurf zurück, sie unterstütze ähnliche Werte wie extrem rechte Parteien in Europa. Aber seine Ausführungen beweisen das Gegenteil:
«Wir sind der Überzeugung, dass wir Antisemitismus nicht dulden und dass die Sicherheit des demokratischen und pluralistischen Staates Israel – der einzigen Demokratie im gesamten Nahen Osten – Teil der deutschen Staatsräson ist. Aus diesem Grund stellen wir uns vehement allen Versuchen entgegen, Israels Existenzrecht infrage zu stellen und den israelischen Staat als solchen zu dämonisieren und zu delegitimieren. Diese Position beziehen wir aus Überzeugung, unabhängig von der vorgeblichen Israelfreundlichkeit europäischer Rechtspopulisten, die meiner Ansicht nach von gänzlich anderen Motiven getrieben ist.»
Die israelische Lobby, vor allem das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten, kann mit dem Bundestagsbeschluss einen großen Sieg verbuchen. Nur wenige Tage später hat das Ministerium zugegeben, dass es mit Geld Initiativen gegen BDS fördert. Gegen Solidarität mit Palästina setzt die Lobby die auf den israelischen Politiker Nathan Sharansky zurückgehende Diffamierungs-, Delegitimierungs- und Dämonisierungstaktik ein – die «drei D», die gegen Israel gerichtet seien, in Wahrheit aber auf die BDS-Bewegung projiziert werden.
Mit dem Bundestagsbeschluss kann sich Netanyahu rühmen, dass er nun auch Deutschland in die Reihe der illiberalen und bedingungslosen Unterstützer Israels aufnehmen konnte.

Siehe auch:
Shir Hever: Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Köln: Neuer ISP Verlag, 2014.
Omar Barghouti: Boykott – Desinvestment – Sanktionen. Die weltweite Kampagne gegen Israels Apartheid und die völkerrechtswidrige Besatzung Palästinas. Köln: Neuer ISP Verlag, 2012.

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