von Manuel Kellner
Die International Socialist Organization (ISO) war viele Jahre lang die mitgliederstärkste Organisation mit sozialistisch-revolutionärem Anspruch und marxistischem Selbstverständnis in den USA. Sie dürfte etwa 800 Mitglieder gehabt haben, etwas über 60 Ortsgruppen (mit jeweils zwischen 5 und 50 Mitgliedern) und Stützpunkte (weniger als 5 Mitglieder). Sie gab eine Monatszeitung (die online Tageszeitung war) und eine vierteljährlich erscheinende Theoriezeitschrift heraus. Eine Reihe ihrer Mitglieder hatten einigen Einfluss in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.
Am 19.April 2019 teilte die – erst einen Monat zuvor gewählte – Leitung der ISO die Selbstauflösung der Organisation mit. Anscheinend gehen damit zumindest zwei wichtige, mit der ISO verbundene Tätigkeitsfelder nicht verloren: Erstens die jährlichen Sozialistischen Konferenzen, zu denen regelmäßig bis zu 1200 Aktive und Interessierte aus allen Teilen des Landes kommen; zweitens der Verlag Haymarket Books, der viele Bücher von großem Interesse für linke Politik herausbringt und mit dem Institut Center for Economic Research and Social Change zusammenarbeitet. Trotzdem ist das Verschwinden der ISO ein Rückschlag, und jede aus Sektenneid geborene Häme – so etwas findet sich natürlich leicht im Internet – ist völlig unangebracht.
Eigentümlich wirkt, dass wenige Wochen vor der Selbstauflösung die alte Leitung von einer neuen Mehrheit ersetzt worden war, mit dem Anspruch, die ISO zu einer effizienteren Kraft für die sozialistischen Ziele zu machen. Das war keineswegs so geplant gewesen – der Prozess hin zur neuen Mehrheit und der folgende hin zur Selbstauflösung sind zweierlei. Im März 2019 hatte die ISO ihre jährliche Delegiertenkonferenz. Die im Herbst 2018 begonnene Vorkonferenzperiode war davon geprägt, dass die überwältigende Mehrheit der Leitung einschneidende Änderungen wollte – die wichtigsten Vertreter der alten Mehrheit fanden sich nun, wie auch später auf der Konferenz, in der Minderheit. Es entstanden rasch vier Tendenzen (Meinungsströmungen), von denen eine, die sich «Unabhängigkeit und Kampf» nannte, die meiste Unterstützung in der Mitgliedschaft fand.
Die Debatte war kontrovers und intensiv. Es gab, erstmals, über 40 Rundbriefe mit Diskussionsbeiträgen. Herausragende Themen waren das Bedürfnis nach mehr Transparenz und Offenheit bei Leitungswahlen und Finanzen und nach einer Auflockerung der gegebenen Routine in der Arbeit der Ortsgruppen – bemängelt wurde eine zu starke Konzentration auf die Universitäten auch dort, wo die Mitglieder ganz überwiegende abhängig Beschäftigte waren, und ein Rhythmus von Sitzungen, Schulungen, Flugblattverteilen und Zeitungsverkauf, der die Aktiven auf die Dauer ausbrannte.
Ein Erdbeben
Die frühere Mehrheit überzeugte nur noch sehr wenige. Charakteristisch war vielleicht, dass sie argwöhnte, die neue Mehrheit wolle auf eine Unterstützung der Demokratischen Partei umschwenken. Tatsächlich warf zumindest ein kleinerer Teil der neuen Mehrheit die Frage der Beziehungen zu den Democratic Socialists of America (DSA) auf, die Bill Sanders unterstützt und 2017 die sozialdemokratische Sozialistische Internationale wegen deren Neoliberalismus verlassen hatte. Mit rund 40000 oder mehr Mitgliedern und ihrer Jugendorganisation Young Democratic Socialists ist sie die bei weitem bedeutendste sozialistische Kraft in den USA – sie hat sich aber nicht als Partei konstituiert und versucht weiterhin, in der Demokratischen Partei eine Rolle zu spielen.
Nach der Konferenz kamen handfeste Skandale ans Licht, die einen regelrechten Schock auslösten. Es ging um eine Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergriff eines Leitungsmitglieds vor einigen Jahren, die Tat sei von führenden Mitgliedern der alten und der neuen Mehrheit unter den Teppich gekehrt worden. Viele Mitglieder assoziierten das mit den kritikwürdigen Aspekten der Organisationskultur. Nach der Konferenz hatte es so ausgesehen, als sei ein neuer Anlauf möglich – nun aber traten Mitglieder scharenweise aus, bis ein Mitgliederentscheid die Selbstauflösung beschloss.
Das Organisationsmodell
Politische Organisationen, die sich auf die Oktoberrevolution von 1917 und die Rolle der Bolschewiki in ihr als Modell beziehen und sich selbst – wenn nicht als revolutionäre Partei so doch als den Kern der künftigen revolutionären Partei sehen, kommen durch dieses Selbstmissverständnis meist zu einer rigiden Organisationskultur und sektiererischen Selbstgenügsamkeit. Diesen Fehler hatte die ISO nicht. Sie sah sich selbst nur als einen Kern der zukünftigen revolutionären Partei, die in fortgeschrittenen Kämpfen und Bewegungen aus dem Zusammenkommen verschiedener alter und neuer Kräfte entstehen würde. Darum wirkte sie vergleichsweise offen und fähig, loyal an Bewegungen teilzunehmen und neuen Mitgliedern einen kritischen Marxismus zu vermitteln.
Trotzdem scheint die ISO den eigenen Organisationsaufbau zu sehr als Selbstzweck betrieben zu haben. «Movementism» – zu sehr auf Bewegungen abfahren – war in der ISO negativ besetzt. Man musste doch stärker werden, um in den kommenden Aufschwüngen des Klassenkampfs eine führende Rolle spielen zu können!
Mit diesem Organisationsmodell konnte die ISO durch eine Zeit kommen, in der es relativ wenig Klassenkämpfe gab. Aber nicht mehr heute, nach Occupy, Black Live Matters, den Lehrerstreiks, den Frauenmobilisierungen gegen Trump, #MeToo und der Kandidatur von Bernie Sanders. Die Herausbildung einer verhältnismäßig starken sozialistischen Strömung stellte die ISO vor die Aufgabe, Teil dieser Bewegung zu werden.
Quelle: Paul LeBlanc in: LINKS – International Journal of socialist renewal, http://links.org.au/.
*Die ISO war bis vor vielen Jahren Mitglied der International Socialist Tendency, die von der britischen SWP angeführt wird (in Deutschland kommt Marx21 aus dieser Strömung) und unterhielt später solidarische Beziehungen mit der IV. Internationale.
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