von Miguel Urbán Crespo
Die vielleicht wichtigste Neuerung, die die jüngsten EU-Wahlen gebracht haben, ist das Ende der Zweiparteienherrschaft über das Parlament. Miguel Urbán sieht eine neue Konstellation sich nach vorn schieben.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Europaparlaments haben die Europäische Volkspartei (der Konservativen; EVP) und die Progressive Allianz von Sozialisten und Demokraten (S&D) die gemeinsame absolute Mehrheit verfehlt. Die EVP ist mit 180 Sitzen wieder stärkste Partei geworden, hat aber gegenüber 2014 41 Sitze und 5 Prozentpunkte der Stimmen verloren. S&D wurde mit 145 Abgeordneten wieder zweite, verlor aber 45 Sitze und 6 Prozentpunkte der Stimmen.
Das Ergebnis bestätigt eine anhaltende Tendenz unserer Zeit, nämlich die Krise der großen Parteien, die nach dem Zweiten Weltkrieg die politischen Geschicke dominiert haben; sie beschränkt sich nicht auf bestimmte Länder, sondern ist ein europaweites Phänomen. Die extreme Mitte, die als große Koalition Europa bislang regiert hat, implodiert und das Wahlvolk geht zunehmend zersplittert daraus hervor.
Dabei hat es den Anschein, als stünden wir gerade erst am Anfang einer europaweiten Neuausrichtung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sphären.
Neue Allianzen
Der Niedergang der Zweiparteienherrschaft führt nicht notwendig zu einer Destabilisierung der neoliberalen Governance auf EU-Ebene; mindestens wird sie eingedämmt, da es in den letzten Jahren in den EU-Institutionen Brauch geworden ist, dass auch Liberale und Grüne sich in den großen Block einreihen. Diese beiden Fraktionen haben in den jüngsten Wahlen am stärksten zugelegt, sie stellen jeweils die dritt- und die viertstärkste Fraktion. Die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) hat unter der Führung von Emmanuel Macrons Vorschlägen für eine Erneuerung Europas ihre Stimmenzahl verdoppelt und die Zahl ihrer Abgeordneten von 67 auf 109 erhöht. Die Grünen haben 30 Prozent Stimmen mehr bekommen und haben nun 69 statt vorher 19 Sitze.
Der Aufstieg der Liberalen und Grünen eröffnet Möglichkeiten für die Bildung einer neuen Koalition an der Spitze der EU; sie würde sich am spürbarsten in der Wahl der neuen Kommission und vor allem des Kommissionspräsidenten niederschlagen.
Traditionell wären die Spitzenkandidaten der EVP (Manfred Weber) und der S&D (Frans Timmermans) die Favoriten für den Posten des Kommissionspräsidenten gewesen, da die beiden aber ihre absolute Mehrheit verloren haben, verliert diese Logik ihren Sinn. Wenn Weber gedacht hat, ein Wahlsieg der EVP würde ihn ins Präsidentenamt hieven, hat er sich geirrt. Stattdessen ist eine Art Game of Thrones an der Spitze der EU ausgebrochen.
Timmermans hat zur Bildung einer progressiven Allianz unter Ausschluss der EVP aufgerufen, der spanische Premierminister Pedro Sánchez und der französische Staatspräsident Macron haben sich in Paris getroffen, mutmaßlich um eine sozialliberale Allianz zwischen S&D, Liberalen und Grünen zu schmieden. Diese Allianz hat sich bereits im Wahlkampf abgezeichnet, als der portugiesische Premier, der Sozialist António Costa, Mitte Mai auf einer Wahlkampfveranstaltung für Macrons europäische Erneuerung in Straßburg auftrat – alle wichtigen liberalen Parteien waren dort versammelt.
Macrons Favorit für den Posten des Kommissionspräsidenten ist Michel Barnier, der für seine Geschick bei den Brexit-Verhandlungen allseits hoch gepriesen wird. Doch es scheint, als könne die derzeitige Wettbewerbskommissarin, Magrethe Vestager, auf größere Unterstützung rechnen. Das Ende der Vorherrschaft der beiden großen Volksparteien kann gut und gerne zu einem Szenario nach Art des dänischen TV-Dramas Borgen führen, in der Birgitte Nyborg, die Vorsitzende einer kleinen Partei der Mitte, sich auf einmal als Chefin einer schwer kontrollierbaren Regierungskoalition wiederfindet.
Sánchez’ Rolle in alledem ist alles andere als unbedeutend. Die spanischen Sozialdemokraten sind innerhalb ihrer europäischen Fraktion die stärkste Partei und Spanien das wichtigste Land, das derzeit von Sozialdemokraten regiert wird. Der Block der PSOE wird deshalb in jeder möglichen Allianz mit den Liberalen eine entscheidende Rolle spielen. Eine Allianz, die von Macron bis Tsipras reichen könnte, würde nicht nur die neoliberale Austeritätspolitik und die EU-Sicherheitspolitik unverändert fortsetzen, sie würde Sánchez auch die Schlüssel in die Hand geben für die Verteilung der wichtigsten Posten in der Kommission.
Deutschland gewinnt immer
Gary Lineker, einer der besten englischen Mittelstürmer der 80er Jahre, sagte einmal: «Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball hinterher und am Ende gewinnen immer die Deutschen.» Was aber gewinnt Deutschland, wenn Weber als Kandidat für den Kommissionspräsidenten ausfällt?
Um Angela Merkels wirklichen Plan zu verstehen, müssen wir ein Jahr zurückgehen zur Ernennung von Luis de Guindo zum stellvertretenden Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Sie war ein Baustein in einer weitaus komplexeren Strategie. Damit machte Merkel den Weg frei für die Wahl von Jens Weidmann, derzeit Bundesbankpräsident, an die Spitze der EZB, wenn Mario Draghi im Herbst abtritt. Mit ihrer Politik des Quantitative Easing ist die EZB zur wahrscheinlich wichtigsten Institution der EU geworden, die ihre zunehmende Macht hinter dem Schild ihrer angeblichen «Autonomie» verbirgt.
Webers Kandidatur für die Präsidentschaft der Kommission ist Ausdruck des instabilen Kräfteverhältnisses in der deutschen Koalition zwischen CDU und CSU. Sie hat dort vorübergehend Frieden gestiftet, Weber aber zugleich aus dem Kreis der Kandidaten für die Präsidentschaft der EZB herausgenommen. Weber wiederum hat sich nicht gescheut, mitten im Wahlkampf Merkel und ihre Regierung öffentlich anzugreifen, als er sagte, als Präsident der EU-Kommission werde er die russisch-deutsche Pipeline North Stream 2 auf Eis legen – ein Projekt, das von Merkel unterstützt wird, gegen das verschiedene EU-Länder aber opponieren.
Die mehr als wahrscheinliche Niederlage von Weber wird Deutschland erlauben, sich um den Vorsitz der EZB zu bewerben. In den kommenden Monaten werden wir deshalb ein beachtliches Stühlerücken hinter verschlossenen Türen erleben.
Webers Kandidatur hat die Widersprüche in der EVP-Fraktion zugespitzt: Der moderatere Flügel hat die fremdenfeindlichen Erklärungen der Fraktion kritisiert, der extrem rechte Flügel wiederum, der von Orbáns Fidesz-Partei angeführt wird, hat seine Unterstützung für Weber bekräftigt. Die EVP fürchtet nichts mehr als einen offenen Konflikt mit Fidesz, und dies mit Grund. Orbáns Partei rangiert, was die Zahl ihrer Abgeordneten in der Fraktion betrifft, direkt hinter der Union. Bei den EU-Wahlen im Mai hat Fidesz in Ungarn 52 Prozent der Stimmen geholt und einen zusätzlichen Sitz ergattert.
Im vergangenen März wurde Fidesz von Führungsfunktionen in der EVP suspendiert, ein Manöver, das eine harte Linie gegen die Rechtsbrecher in Ungarn demonstrieren, Orbán aber zugleich in der EVP-Familie halten sollte. Die EVP sieht sich vor der schwierigen Aufgabe, einerseits Fidesz zu isolieren, um die Unterstützung der Liberalen für Webers Kandidatur zu bekommen, andererseits aber das Risiko zu parieren, dass Orbáns Partei zur Fraktion der extremen Rechten um die italienische Lega und den Rassemblement National von Marine Le Pen wechselt, was die Reihen der EVP zusätzlich ausdünnen würde.
Bittersüße Früchte für die extreme Rechte
Die europäische extreme Rechte hat bei den Europawahlen bittersüße Früchte geerntet. Auf der einen Seite stellt sie nun fast ein Viertel der Abgeordneten im Europaparlament, doch das Ziel, ausreichend Sitze für eine Sperrminorität zu bekommen, die EU-Beschlüsse blockieren kann, hat sie nicht erreicht. In Brüssel wurde das groß gefeiert, doch bei näherem Hinsehen gibt es da nichts zu feiern.
Erstens hat die extreme Rechte die meisten Stimmen in drei der vier größten EU-Länder (die die meisten Sitze haben) geholt: Frankreich, Italien, Großbritannien. Gleichzeitig hat sie durch die Bank auch in fast allen anderen Ländern zugelegt – etwa in Spanien zum erstenmal Sitze geholt, das bislang nie rechtsextreme Kandidaten in ein Europaparlament geschickt hat. In Belgien kam der Vlaams Belang auf 12 Prozent, in den Niederlanden das Forum voor Democratie auf 11 Prozent. Auch in den Ländern der Visegrád-Gruppe (ein Zusammenschluss von Staaten aus Mittel- und Osteuropa) hat sie zugelegt: Polens Partei des Rechts und der Gerechtigkeit (PiS) bekam mit 45,3 Prozent sieben Sitze mehr; in der Slowakei Kotleba 12 Prozent, in Tschechien die SPD 9,1 Prozent.
Das größte Problem der extremen Rechten ist ihre anhaltende Aufsplitterung auf verschiedene Parlamentsfraktionen. Salvini von der Lega hat versucht, sie zusammenzuführen, doch deutet alles daraufhin, dass die Atomisierung der extremen Rechten sich fortsetzt, mindestens solange die Brexitfrage nicht geklärt ist. Diese ist inzwischen in eine institutionelle und Regierungskrise gemündet, die das Zeug hat, ein dauerhafter Quell von Spannungen in der EU zu sein.
Kleine Lichtblicke
Gleichfalls in den Kernländern Europas – Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien, Schweden – ist aber auch die Bewegung Fridays for Future stark und hat einen Höhenflug der Grünen ausgelöst: sie haben sich von 50 auf 70 Sitze verbessert. In Frankreich wurden sie mit 12,6 Prozent drittstärkste Partei, in Belgien erzielten sie mit 15 Prozent 3 Sitze.
Die Linke hat, bis auf wenige Ausnahmen, eine krachende Niederlage erlitten und 14 Sitze verloren. Die Wahrheit ist, dass sie mehrheitlich nicht in der Lage ist, eine Strategie zu formulieren, die sich vom Sozialliberalismus absetzt; gelegentlich verfällt sie sogar in eine Anti-Migranten-Rhetorik.
Die neoliberale EU hat einen Integrationsgrad erreicht, bei dem es nicht möglich ist, einen Kurswechsel einzuleiten, ohne vorher das Kräfteverhältnis auf EU-Ebene substanziell verändert zu haben. Das allerdings zeichnet sich derzeit nicht ab.
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