von Rolf Euler
In der Zeit, als das private Seenotrettungsschiff Seawatch 3 im Mittelmeer vor Italien dümpelte, dann einlief und ein Medienrummel um die Kapitänin Carola Rackete losging, waren die Zeitungen voll von Meldungen über den neofaschistischen Kurs des italienischen Innenministers. Völlig an den Rand gedrängt wurde die Verantwortung der EU-Gremien und auch der deutschen Regierung für die Toten im Mittelmeer. Die spätere Aufteilung einer kleinen Zahl von Geflüchteten auf mehrere Länder Europas, die Anklage gegen die Kapitänin, ihre Gegenklage gegen Salvini wegen seiner Pflicht zur Seenotrettung waren einige Tage Schlagzeilen wert, danach war erneut Sendepause bis zu den nächsten mehreren hundert Toten.
Keine Schlagzeilen machte die Strafanzeige eines Theologen und ehemaligen Lehrers aus Haltern gegen Horst Seehofer wegen «unterlassener Hilfeleistung» bzw. «Behinderung von hilfeleistenden Personen»; sie war schon im letzten Jahr an die Staatsanwaltschaft Ingolstadt gegangen wegen Seehofers Äußerungen zur strafrechtlichen Verfolgung der Lifeline-Crew, die damals ebenfalls tagelang an der Einfahrt gehindert wurde.
Ebenfalls wenig öffentlich verbreitet wird ein Verfahren, das ein israelischer Rechtsanwalt zusammen mit Kollegen gegen politisch Verantwortliche der EU vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anstrengt. Der Anwalt Omar Shatz sagte in einem Zeit-Interview am 1.8. zu den über 18000 Mittelmeertoten seit 2014: das ist «ein Verbrechen … Die Toten sind fester Bestandteil des Plans, die Migrationsströme aus Afrika einzudämmen. Diese Politik wurde … vorsätzlich entworfen und umgesetzt.» In der Klageschrift werden führende Politiker wie Juncker, Merkel und Macron sowie libysche Verantwortliche genannt, aber auch Frontexkapitäne oder Beamte in Ministerien.
Die Rechtsanwälte um Shatz haben lange recherchiert und zum Teil geheime Dokumente herangezogen, um beweisen zu können, dass hier «Mord durch unterlassene Hilfeleistung» und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen. Insbesondere die Einstellung der italienischen Rettungsmission Mare Nostrum, die Aufrüstung der libyschen Küstenwache durch die EU zur Rücksendung der aufgegriffenen Geflüchteten in die libyschen Folterlager sowie die offensichtliche Behinderung der ehrenamtlichen Seenotretter sind Teil der Anklage. Ausführlich geht Omar Shatz in dem Interview auf die Zustände im Mittelmeer und in den libyschen Lagern in den letzten Jahren ein und begründet Vorwürfe gegen die deutsche Regierung. Der Kernpunkt seiner Anklage, und was ihn vom Vorgehen der Menschenrechtsorganisationen unterscheidet, die sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufen, ist der, dass er und seine Kollegen sich auf das internationale Strafrecht berufen und mit dem Begriff des «Verbrechens» operieren. Die vagen Erfolgsaussichten haben sie nicht abgeschreckt: «In unserem Fall stammen … alle Verdächtigen aus der EU, und deren Mitgliedstaaten haben das Statut des Gerichtshofs unterzeichnet. Deshalb kann die Chefanklägerin hier einfach ermitteln, sie muss die Richter nicht um Erlaubnis fragen» – wie im Fall der vom Gericht auf Druck der USA abgelehnten Ermittlungen gegen die US-Armee in Afghanistan.
Es steht zu befürchten, dass der Druck der EU-Politik auf den Internationalen Strafgerichtshof nicht kleiner sein wird. Verbrechen ohne Strafe? Man wünscht den mutigen Anwälten Ausdauer und Erfolg, der «Rechtsweg» ersetzt sicher nicht den politischen Druck von unten auf diejenigen, die Flüchtlinge bekämpfen. Ein gutes Zeichen: Bis zum 1.August wurden auf Initiative der beiden Fernsehmoderatoren Böhmermann und Heufer-Umlauf mehr als eine Million Euro auf ein Treuhandkonto für die private Rettung im Mittelmeer gespendet.
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