Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2019

Arbeitszeitverkürzung ist kein Allheilmittel
von Michael Heldt

«Ich kann die Forderung nach der Kürzung der Arbeitszeit nicht mehr hören. Merken die noch, wie wir heute arbeiten?» Michael, arbeitet in einem Industriebetrieb
«Die fordern, dass ich auf diesem Niveau weiter leben soll? Von vier Stunden am Tag kann ich nicht leben und Vollzeitstellen werden bei uns nur noch im Management ausgeschrieben.» Manuel, arbeitet in der Lebensmittelindustrie
«Wer heute die Senkung der Arbeitszeit fordert, hat wohl verpasst, dass wir froh wären, wenn wir wirklich mal nach acht Stunden nach Hause gehen könnten.» Katrin, arbeitet in der Persönlichen Assistenz

Die Lage ist wie gewohnt schwierig. Und wird mit dem aus guten Gründen immer öfter genutzten Recht auf Teilzeit nicht einfacher. Ich selbst arbeite in einem Industriebetrieb, in dem es ohne größere Probleme möglich ist, einen 4-Stunden Tag auf Teilzeit für sich durchzusetzen – nein, wir mussten ihn gar nicht durchsetzen. Die Geschäftsleitung weiß damit in ihrem Sinne «produktiv» umzugehen: Senkung der Arbeitszeit und Flexibilisierung in den Mixer – passt.
Trotzdem nehmen dieses Recht eben doch nicht alle wahr. Wir lieben unsere Arbeit einfach zu sehr. Nee, war gelogen. Die allermeisten können sich den Spaß der individuellen Arbeitszeitverkürzung schlicht nicht leisten. Junge KollegInnen fürchten den Karriereknick. Aus Angst davor, knien sie sich gerade in Teilzeit richtig rein. Sie sind getrieben von dem Druck, der nicht zuletzt im Personalgespräch heraufbeschworen wird, wenn das Unternehmen daran erinnert, wie verständnisvoll es doch in der persönlichen Situation gewesen sei.
Krisenlasten und Auftragsfluktuation können so – bei eingesparten Personalkosten – marktgerecht nach unten weitergereicht werden. Und das wird dann noch als Win-Win-Situation verkauft. In der sich stetig weiter ausdifferenzierenden Arbeitsteilung wird aber aus der gesunkenen Normarbeitszeit, die dafür verdichtet und flexibilisiert wird, ein Boomerang: Gewonnen haben am Ende vor allem unsere Herren.
In Zeiten, in denen individuelle Arbeitszeiten tendenziell nach unten gehen, und sogar Arbeitergeberverbände in den Chor der Arbeitszeitsenker einstimmen, muss man sich überlegen, mit wem es sich zu singen lohnt.

Mehr Lohn!
Die Lösung liegt auf der Hand: Statt die Forderung nach Senkung der Arbeitszeit weiter voranzustellen, wäre eine klassenpolitische Offensive durchaus möglich und würde noch mehr als die gesenkte Arbeitszeit aufklärerisch den wissenschaftlichen Begriff der «Ausbeutung» vermitteln. Wir müssten dafür entsprechende Anforderungen an die Lohnentwicklung an erste Stelle setzen: 25–50 Prozent Lohnsteigerung klingt vielleicht dreister als die Forderung nach der 30-Stunden-Woche oder dem 4-Stunden-Tag. Im Kern beschreibt es aber nichts anderes, wenn man die ausformulierten Diskussionsbeiträge ernst nimmt. Es zeigt nur deutlicher, welche Macht wir aufzubauen gedenken, und dass wir uns mitnichten an die weitere Unterwerfung unter die kapitalistische Wirklichkeit von Krise und Konkurrenz gewöhnen wollen. Es führt zügiger zu den damit verbundenen Anforderungen an gewerkschaftliches Denken und Handeln.
Und eine politische Gegenoffensive ist innergewerkschaftlich notwendig, sonst werden uns Umfrageergebnisse wie die von Ver.di demnächst in den Tarifrunden als miese Verhandlungsmasse begegnen (www.verdi.de/arbeitszeitumfrage-oed). Da steht die Arbeitszeitverkürzung zwar ganz vorne, ein entsprechender Lohn- und Personalausgleich ist jedoch nicht inbegriffen.

Was tut der kluge Sozialist?
Dort, wo KollegInnen die Forderung nach Senkung der (regulären) Arbeitszeit aufstellen, kann die Forderung nur aufrichtig von uns unterstützt werden. Vollumfänglich. Denn entspringt sie aus der betrieblichen Organisierung, dann beruht sie eher auf einer Basis von Macht, Selbstbewusstsein und Zukunftsdenken, solange sie die Senkung des Ausbeutungsgrads mitdenkt.
Außerirdische, also nichtbetriebliche GewerkschafterInnen mögen die Forderung aufstellen und einige schon Politisierte um sich scharen, um mal das eine oder das andere Zukunftsbild der Gesellschaft sichtbar machen. Entspringt die Forderung nicht aus Macht, sondern nur aus einem Wunsch, wird daraus schnell ein Spiel mit dem Teufel. Bei Fehlen der betrieblichen Kampfstärke kann in einer Situation, in der der Gegner die Hälfte der eigenen Forderung teilt, oder zumindest unbesorgt wiederkäuen kann, das Risiko groß sein, dass wir eine Wiederholung des Desasters der 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie 1984 erleben: 35 Stunden – ok, schweren Herzens. Dafür bekommt ihr auch gleich einen Batzen Flexibilität und Verdichtung, der der Kapitalistenklasse mehr nutzt als schadet. Vom Klassenstandpunkt aus kein guter Deal, sondern eine versteckte Niederlage.
Auf der sicheren Seite sind wir mit dem Mantra: Weniger Arbeit – mehr Geld! Das eine nicht ohne das andere. Es ist momentan nicht absehbar, dass wir im DGB große Forderungen aufstellen können und sollten, die nicht durch die in Leichenstarre erstarkten Reformisten doch noch gegen uns gewendet werden. Entgegen den 80er Jahren, in denen in der IG Metall durchaus eine linke, kämpferische Basis aktiv war, können wir uns momentan dieser Stärke nicht bewusst sein – in keiner Industrie, schon gar nicht in der Summe der Lohnarbeitsverhältnisse. Das können wir ändern, aber nur mit richtigen Ansätzen – die Betonung der Senkung der Arbeitszeit ist es heute eben nicht.

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