Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung empfiehlt die Schließung jeder zweiten Klinik
von Tobias Michel*
«Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Kliniken möglich.» Mit dieser Botschaft machte die Bertelsmann-Stiftung im Sommer reichlich Schlagzeilen. Ihre merkwürdige These basiert auf einer Simulationsstudie. Was wurde da durchgespielt?
Tun wir mal so, als ob! Das spielen Kinder gern im Sandkasten. Mit tiefem Ernst prüfen sie Möglichkeiten und entdecken Alternativen. Stolz verkünden sie dann: Guck mal, so geht das und das geht auch anders.
Auch Erwachsene spielen ernsthaft. Drei von der Bertelsmann-Stiftung beauftragte Wissenschaftler nannten ihre Studie jedoch nicht Sandkasten, sondern «Zukunftsfähige Krankenhausversorgung – Simulation und Analyse einer Neustrukturierung der Krankenhausversorgung am Beispiel einer Versorgungsregion in Nordrhein-Westfalen». Sie simulierten, wie viele Krankenhäuser ausreichen, damit jeder Mensch in Stadt und Land in höchstens 30 Minuten deren Notaufnahme erreichen kann. Und sie simulierten gleich weiter: Wieviele Krankenhäuser bleiben übrig, falls jedes über alle 14 Fachabteilungen hinweg durch ausreichend gleichartige Fälle Erfahrungen sammeln kann?
Als Sandkasten wählten die Autoren das Versorgungsgebiet 5 in NordrheinWestfalen mit einer Bevölkerung von gut 2 Millionen in den Großstädten von Köln und Leverkusen bis weit hinein ins eher dünn besiedelte Bergische Land. Von den 45 Krankenhausstandorten in dieser Region befindet sich mit 22 Standorten knapp die Hälfte in Köln. Das war die Ausgangslage.
Dann begannen die Wissenschaftler zu simulieren; mal ging es ihnen allein um die Erreichbarkeit, mal zusätzlich um Mindestmengen bei den typischen Behandlungen als einer möglichen Bedingung für Qualität. Wo sollten Krankenhäuser stehen? Wie viele wären da optimal?
Am Ende ihrer Planspiele standen in der Millionenmetropole Köln nur noch ein bis zwei Krankenhäuser. Unbekümmert beschreiben die Herren diese gigantischen Bettenburgen, auf S.54 der Studie steht: «Das Universitätsklinikum Köln hätte mit rund 166000 Fällen einen deutlich größeren Versorgungsumfang als die Charité im Jahr 2017 mit ihren drei Berliner Standorten zusammen (142757 Fälle) und auch einen deutlich größeren als die angestrebten ‹Superkrankenhäuser› in Dänemark. Bei den drei kleineren Häusern (Waldbröl, Wermelskirchen, Frechen) hingegen würden sich die Fallzahlen nur unwesentlich ändern.»
In der Kölner Firma BDO-legal haben sich Anwälte und Wirtschaftsprüfer zu einer der wichtigsten Beratungsgesellschaften für Krankenhäuser in Deutschland zusammengeschlossen. In ihrem Newsletter Nr.7 vom Juli 2019 ordnet Diplom-Kaufmann Andreas Kamp die Gedankenspiele vorsichtig ein. «Ein Modellvorschlag, wie er vom Expertenteam der Studie entwickelt wurde, grenzt sich fast schon automatisch von der Realität ab. So geht es zunächst einmal nicht um die Umsetzbarkeit, sondern lediglich um ein Modell auf der ‹grünen Wiese›.»
Ganz anders trumpfte die Bertelsmann-Stiftung auf, als sie die 106 Seiten am 15.Juli online stellte: «Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Kliniken möglich.» Die Stiftung hat die Studie in Auftrag gegeben und bezahlt. Darum nimmt sie sich heraus, das Spielergebnis sehr frei zusammenzufassen: «In Deutschland gibt es zuviele Krankenhäuser. Eine starke Verringerung der Klinikanzahl von aktuell knapp 1400 auf deutlich unter 600 Häuser würde die Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern.»
Die Studie hatte nicht untersucht, ob die Halbierung der Anzahl der Standorte möglich ist. Sie hatte nicht einmal untersucht, was ihre Szenarien kosten würden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), durchaus mit sehr eigenen Interessen, setzte am selben Abend in den Nachrichten den Schätzpreis auf mehrere hundert Milliarden Euro.
Die von Bertelsmann bezahlten Wissenschaftler beschreiben gerade einmal mit ein paar Stichworten ihrer Einleitung, dass ausreichend große Fachabteilungen durch die Ansammlung ihrer Erfahrung wohl Fehler bei Behandlungen vermeiden. Die Zusammenballung an wenigen Standorten kann angeblich auch gegen den Mangel an Fachpersonal helfen. Eine mehr als mutige Behauptung. Denn da müsste ja auch das gesamte Personal rund um die Großkrankenhäuser zusammengezogen werden, eine kleine Völkerwanderung. Normale Menschen erwarten da Verluste, denn da ziehen wohl nicht alle mit.
Die drei Studienautoren Martin Albrecht, Stefan Loos und Karsten Zich, alle drei beschäftigt beim IGES-Institut in Berlin, untersuchten auch nicht, ob mit der Qualitätsverbesserung durch die Konzentration von Erfahrung zugleich schlechtere Qualität eingehandelt wird. Etwa durch die Hospitalisierung, die Herauslösung der PatientInnen aus dem Kreis ihrer Angehörigen. Oder durch Spezialisierung, also einer Verengung statt einer eher ganzheitlichen Medizin.
Und schon gerät die verbesserte Versorgung ganz aus ihrem Fokus, sie schreiben: «Der Wettbewerb der Krankenhäuser trägt daher Merkmale ruinöser Konkurrenz, führt zu Defiziten in der Behandlungsqualität und zu Effizienzverlusten.» Ja, das beobachten die Autoren sehr scharfsichtig. Und sie überraschen uns: In ihrem Sandkasten versorgt jedes der neuen Großkrankenhäuser seine eigene Region. Hier droht keine Konkurrenz. Wir können dies auf einen knappen Nenner bringen: Empfohlen werden regionale Monopole, mit durch die Krankenhausplanung garantiertem Gebietsschutz.
Wem sollen diese Monopol-Krankenhäuser gehören, wer soll sie leiten? Wer hat Glück und bekommt im nun weiteren Umkreis eine kommunale Klinik? Wer hat Pech und muss sich mit einer Klinik in katholischer Hand begnügen? Und wer hat das Nachsehen – weil die von oben zugeteilte Bettenburg mit ihren Rechnungen an die Krankenkassen zugleich auch eine Dividende von 12 Prozent an die privaten Aktionäre der privaten Klinikkette finanzieren muss?
Die Abendnachrichten und Zeitungen wiederholten die Botschaft der Bertelsmann-Stiftung, ohne zu stolpern oder beim Nachdenken ins Stottern zu kommen: «Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Kliniken möglich.» Doch niemand hatte auch nur untersucht, ob vielleicht die Verwandlung einiger ländlicher Kliniken mit weniger als 150 Betten in Notfall- oder Portalkliniken möglich und sogar deutlich billiger wäre. Niemand hatte untersucht, ob dies ebenfalls PatientInnen und Angehörige besser versorgen könnte. «Nur mit halb so viel Kliniken» – diese eingängige Botschaft schließt nicht nur jegliche alternativen Pläne aus. Sie schließt bereits jeden Abstrich an dieser Radikalkur aus.
Mit 100 Milliarden Euro könnten wir über 25 Jahre hinweg zusätzliche rund 50000 Pflegekräfte und 25000 Ärztinnen und Ärzte finanzieren. Ließe sich damit die Gesundheitsversorgung verbessern? Es wäre möglich.
Ungefragt versucht die Bertelsmann-Stiftung, ihr anderes, eigensinniges Bild der Zukunft zu stanzen. Das zeitigt Wirkung. Womöglich werden Diskussionen um Personalmängel und skandalöse Schlechtleistung künftig mit den neuen, angeblichen Gewissheiten ungefähr so eingeleitet: 1000 Krankenhäuser weniger genügen, größere sind besser, all das ist längst bekannt und wissenschaftlich festgestellt.
Wenn Kinder spielen, verschwimmt die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Wenn WissenschaftlerInnen spielen, schauen wir besser genauer hin – was ist plausibel, was hat welche Auswirkungen, wer hat sie bezahlt, was wollen wir?
* Tobias Michel ist Berater von Interessenvertretungen in Kliniken und Heimen. (Quelle: Bioskop, Zeitschrift zur Beobachtung der Biowissenschaften, Nr.87, September 2019.)
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