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Arbeitswelt 1. November 2019

Ver.di rückt ein kleines Stück nach links
von Jürgen Senge*

Auf dem 5.Ver.di-Bundekongress stimmte der Kongress in wesentlichen Fragen gegen das Votum der Antragskommission.
Vom 22. bis 28.9. tagte in Leipzig der 5.Ver.di-Bundeskongress.

Im Mittelpunkt standen nicht nur die Wahlen und hier vor allem die Wahl des Nachfolgers von Frank Bsirske, sondern auch die Beratung von mehr als tausend Anträgen, darunter auch welche, die den Umgang mit der AfD, dem Klimawandel sowie Ver.di-Positionierungen zur Leiharbeit, zum Mindestlohn, zur Anhebung des Rentenniveaus bzw. zum Renteneinstiegsalter, zur Frage eines Israelboykotts oder des Zeitraums der Wahlperioden zum Thema hatten.
Naturgemäß stützt sich die Medienlandschaft bei Kongressen oft auf Personen bzw. auf die Wahlergebnisse, die diese erreicht haben. Es ist unumgänglich, dass hier ebenfalls darauf eingegangen wird, hat der ehemalige Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske doch seit seinem Amtsantritt vor 18 Jahren die Organisation und die gewerkschaftspolitische Landschaft in Deutschland entscheidend mitgeprägt. Deshalb nahm seine Verabschiedung, nach einem letzten vom ihm gehaltenen zweistündigen Rechenschaftsbericht, auch breiten Raum ein und geriet sehr emotional, was man auch, als der Applaus nicht enden wollte, an seinen Worten «Macht es mir nicht zu schwer» messen konnte.
Schon in seiner Gastrede am Sonntag hatte Bundespräsident Steinmeier erwähnt, dass Frank Bsirske Ver.di war und Ver.di Frank Bsirske. Großen Anklang bei den Delegierten fand übrigens eine Aktion der Ver.di-Jugend, die in Rettungswesten beim Einzug des Bundespräsidenten auf das Sterben von Geflüchteten im Mittelmeer aufmerksam machte.

Kämpferischer sein!
In der Aussprache zum Rechenschaftsbericht wurde vielfach gefordert, Ver.di solle kämpferischer sein. Hierbei wurde auf den erfolgreichen Kampf an den Unikliniken Düsseldorf und Essen verwiesen. Bemängelt wurde auch das abrupte Ende der Aufwertungskampagne im Sozial- und Erziehungsdienst im Jahre 2015. Die Delegierten hoben positiv hervor, dass sich Ver.di aktiv bei den Demonstrationen von Fridays for Future eingebracht hat, und forderten, die soziale Frage stärker in den Vordergrund zu stellen und diesbezüglich auch Visionen zu entwickeln. Ver.di dürfe sich im Rahmen von Umorganisationen wie «Perspektive Ver.di wächst», wegen «Umbau geöffnet» oder «Baustelle Zukunft» nicht so viel mit sich selbst beschäftigen, sondern müsse attraktiv werden für neue Mitglieder, indem die Gewerkschaft kämpferischer wird.

Wahlergebnisse
Die Wahlen zum Bundesvorstand brachten nur wenige Überraschungen. Frank Werneke, der ehemalige Stellvertreter von Frank Bsirske, wurde mit einem sehr guten Ergebnis von 92,7 Prozent zum neuen Vorsitzenden gewählt. Seine Stellvertreterinnen Andrea Kocsis und Christine Behle erhielten jeweils 91,5 bzw. 91,1 Prozent. Zu weiteren Mitglieder des auf neun Köpfe geschrumpften Bundesvorstands wurden Karin Hesse (80,8%), Dagmar König (77,2%), Christoph Meister (89,6%), Sylvia Bühler (91,7%), Stefanie Nutzenberger (61,6%) sowie Christoph Schmitz (96,6%) gewählt.
Das relativ schlechte Ergebnis für Stefanie Nutzenberger kam wenig überraschend, ihr wird eine wenig kooperative Führungskultur nachgesagt, möglicherweise war es aber auch einer Diskussion im Vorfeld des Bundeskongresses um eine ausgesprochene Abmahnung gegen einen Gewerkschaftssekretär geschuldet. Das herausragende Ergebnis für Christoph Schmitz, dem ehemaligen Pressesprecher der Ver.di-Bundesverwaltung, davor Redakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf, von Bild und Leiter der Pressestelle der grünen Bundestagsfraktion, sorgte hingegen für Verwunderung. Auch, dass er auf dem Bundeskongress fast wie ein Popstar gefeiert wurde.
Die neue Vorsitzende des Gewerkschaftsrats heißt Martina Rößmann-Wolf und kommt aus dem Bezirk Düssel-Rhein-Wupper. Sie war die Wunschkandidatin ihrer Vorgängerin und langjährigen Gewerkschaftsratvorsitzenden, Monika Brandl.

12 Euro Mindestlohn
Die ersten Kontroversen zeigten sich bei der Beratung zum Antragsblock «Gute Arbeit und gute Dienstleistungen». Zum relativ harmlosen Leitantrag gab es zwei Änderungsanträge, einer enthielt die Forderung, die Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden zu verkürzen, der zweite wollte eine breite Diskussion in Ver.di über die Verkürzung auf 30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Die Antragskommission, die, wie der Kongressverlauf später zeigte, oftmals nicht gut vorbereitet war und ihre Empfehlung nach Diskussion in der Konferenz ändern musste, erteilte beiden Anträgen eine Absage. Doch der letztgenannte Antrag wurde schließlich mit großer Mehrheit beschlossen.
Zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit lagen allein etwa dreißig Anträge vor, darunter viele, die 30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich nannten. Es ist ein Erfolg dieses Kongresses, dass es gelungen ist, die Arbeitszeitfrage wieder ins Zentrum gewerkschaftlichen Handelns zu rücken. Wie wichtig den Delegierten dieses Thema war, zeigte auch eine vom Arbeitskreis Arbeitszeitverkürzung Hamburg und dem Netzwerk für eine demokratische und kämpferische Ver.di initiierte Aktion, bei der Delegierte, die Marseillaise summend, Transparente mit der Forderung nach einer 30-Stunden-Woche durch den Saal und auf die Bühne trugen.
Auch beim Änderungsantrag, der die langfristige Abschaffung der Leiharbeit forderte, hatte man das Gefühl, dass die Antragskommission die Stimmung im Kongress bzw. die politische Lage im Lande falsch einschätzte. Der Antrag wurde mit 439 zu 390 Stimmen angenommen.
Etwa zwanzig Anträge forderten eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns auf eine zweistellige Zahl, viele nannten 12 Euro, einige sogar deutlich mehr. Mit 512 zu 333 Stimmen abgelehnt wurde ein Antrag, diesen auf 13 Euro zu erhöhen. Angenommen wurde schließlich ein Antrag, Ver.di werde sich dafür einsetzen, dass der Mindestlohn noch in dieser Legislaturperiode auf mindestens 12 Euro angehoben wird.

Andere Anträge
Zum Umgang mit AfD-Mitgliedern wurde u.a. beschlossen, dass Ver.di vor Ort aktiv auf diese zugehen und mit ihnen den unauflösbaren Widerspruch zwischen gewerkschaftlicher Solidarität und rechtspopulistischem/rechtsextremistischem Weltbild erarbeiten soll. Mitglieder, die sich aktiv in der AfD betätigen, sollen im Rahmen der satzungsrechtlichen Möglichkeiten ausgeschlossen werden.
Im Gegensatz zur Empfehlung der Antragskommission (erledigt durch Praxis) wurde – als Arbeitsmaterial für den Bundesvorstand und den Gewerkschaftsrat – ein Antrag beschlossen, der die gesellschaftliche und finanzielle Aufwertung sozialer, personenbezogener und haushaltsnaher Dienstleistungen forderte. Gegen die Empfehlung der Antragskommission votierte der Kongress auch dafür, perspektivisch das Rentenniveau auf mindestens 53 Prozent anzuheben und die abschlagsfreie Rente mit 63 zu fordern.
Die zunächst zur Ablehnung empfohlene Formulierung, der Kongress möge sich ausdrücklich gegen die geplante Rodung des Hambacher Forsts sowie die generelle Zerstörung von Dörfern und Natur und für den Braunkohletagebau aussprechen, wurde von der Basis nicht goutiert; sie lehnte die Formulierung ab.
Auch der Verschiebung der nächsten Organisationswahlen bzw. der Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre erteilte der Bundeskongress nach teilweise hitziger Diskussion eine Absage. Dies alles zeigt, dass die Delegierten selbstbewusst ihre Meinung vertraten und dem Votum der Antragskommission in entscheidenden Fragen nicht folgten.
Am letzten Tag blieben fast hundert Anträge übrig, die abschließend an den Gewerkschaftsrat überwiesen wurden, darunter auch ein Antrag der Ver.di-Jugend, Ver.di solle sich von den Kampagnen BDS und F.OR. Palestine distanzieren.
Alles in allem war der Bundeskongress in vielen Teilen ein Beleg dafür, dass die Basis sich nicht alles gefallen lässt und nicht immer dem vorgeschlagenen Votum folgt.

* Jürgen Senge ist Ver.di-Vorstand für den Bezirk Düssel-Rhein-Wupper.

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