Flüchtlingsboot trifft Traumschiff im Mittelmeer
von Ellen Diederich*
Am Sonnabend, den 14.September 2019, gab es in Hamburg wieder den Cruise Day, den Tag also, an dem sich Kreuzfahrtschiffe der Öffentlichkeit vorstellen. Etwa 250000 BesucherInnen kamen. Ich sah einen Bericht in den Nachrichten. In der darauffolgenden Nacht hatte ich einen Alptraum.
Es begegneten sich im Mittelmeer ein Flüchtlingsboot und ein Kreuzfahrtschiff. Ich bekomme die Bilder aus diesem Traum nicht mehr aus meinem Kopf. Es ist das sinnfälligste Beispiel für das Auseinanderdriften unserer Gesellschaften, für die Aufspaltung in Arm und Reich.
Im letzten Jahr nahmen 2,2 Millionen Deutsche an Kreuzfahrten teil. Die Reedereien wollen bis 2030 eine Passagierzahl von über 6 Millionen Menschen aus Deutschland erreichen. In den USA waren es 2018 11,5 Millionen Passagiere. In diesem Jahr rechnet man weltweit mit 27 Millionen Passagieren.
Weltweit gibt es etwa 448 Kreuzfahrtschiffe. Die Schiffe haben zum Teil inzwischen die Größe von Hochhäusern, sind bis zu 16 Stockwerke hoch, bis zu 9000 Passagiere können mitfahren. Der Passagierzahl entsprechend arbeiten tausende Menschen auf den Schiffen. Das Zahlenverhältnis von Personal zu Gästen beträgt auf «normalen» Schiffen etwa 1:3, auf Luxusschiffen oft sogar 1:1,5.
Mit Kreuzfahrten wurden im Jahr 2017 in Deutschland 3,4 Milliarden Euro Umsatz gemacht, weltweit etwa 25 Milliarden Euro.
Die Arbeitsbedingungen
«Kreuzfahrtschiffe sind personell straff organisiert und viele Schiffe fahren unter der Flagge eines so genannte Gefälligkeitslandes wie Panama, den Bahamas oder Liberia. Diese Länder haben schwächere Arbeitsschutzgesetze, so dass die Besatzung entsprechend weniger Rechte an Bord hat. Crewmitglieder haben befristete Arbeitsverträge mit einer Vertragsdauer bis zu zwölf Monaten. Die Schichten dauern häufig bis zu 12 Stunden pro Tag bei sieben Tagen in der Woche. Die Freizeitmöglichkeiten an Bord sind für viele Mitarbeiter auf den Personalraum beschränkt.» Soweit Wikipedia.
Für die Passagiere wird gut gesorgt, Essen und Trinken, Freizeitangebote, Veranstaltungen, Sport, eine hervorragende medizinische Versorgung, für Notfälle stehen Hubschrauber zur Verfügung, die die Kranken in Krankenhäuser fliegen können. Alles ist bis ins Kleinste organisiert. Das an Bord benötigte Wasser stammt zu 90 Prozent aus dem Meer. Jedes der großen Schiffe hat eine eigene Entsalzungsanlage.
Die Umwelt
Ein Kreuzfahrtschiff stößt mehr Schadstoffe aus als hunderttausend Autos. Es sind Umweltdinosaurier. Der Treibstoff für die Kreuzfahrtschiffe ist in nahezu allen Fällen umweltschädliches Schweröl. Das ist der dreckigste Treibstoff, der auf dem Markt ist. Die meisten Schiffe haben auch keine Russpartikelfilter. In einer Woche verbraucht ein Schiff 1500 Kilogramm Kohlendioxid. Ein Auto der Mittelklasse hat denselben Ausstoß bei einer Fahrt von 9000 Kilometern.
Als Alternative gilt Flüssiggas. Das reduziert den Ausstoß von Stickoxiden. Allerdings ist auch Flüssiggas ein fossiler Brennstoff, es wird sehr häufig durch Fracking gewonnen, produziert also ebenfalls erhebliche CO2-Emissionen. Die Kraftstoffe für die Schifffahrt werden durch Steuerbefreiungen hoch subventioniert.
Die größten Probleme, die durch die Kreuzfahrten entstehen, beschreibt Angelika Slavik so: «Dass ihr Schweröl den Meeren zusetzt. Dass kleine Hafenstädte auf Grönland, Norwegen, Island von tausenden Kreuzfahrern überrannt werden, die kaum Geld in den Orten lassen. Dass die Bugwellen der Riesen Venedigs Fundamente erschüttern.»
Alptraumschiffe
Seit vielen Jahren läuft in der ARD die Serie Das Traumschiff. Das ist ein Kreuzfahrtschiff, das in verschiedene Regionen der Welt unterwegs ist. Die Serie berichtet von den Schönheiten, die auf einer solchen Reise zu sehen sind. Zur gleichen Zeit wie diese Riesenschiffe kreuzen auf den Meeren, insbesondere im Mittelmeer, die kleinen Boote, die Flüchtlinge, vor allem aus dem Mittleren Osten und aus Afrika, nach Europa bringen sollen. Technisch völlig unfähig, grauenvolle Enge, Schlafen auf dem Boden, Nahrungsmittel und Wasser sind mehr als knapp, der Mangel an Toiletten und an Waschmöglichkeiten ist hoch. Die Menschen zahlen horrende Summen, um mitgenommen zu werden. Es gibt immer skrupellose Menschen, die versuchen, am Unglück anderer gnadenlos zu verdienen. Es gibt so gut wie keine medizinische Versorgung. Die Passagiere haben meistens traumatische Wege hinter sich, bis sie an ein Boot kommen. Sie wissen nicht, ob sie irgendwo an Land gehen können, die permanente Bedrohung, wieder zurückgeschickt zu werden, schwebt über ihnen.
Offiziell lauten die Zahlen der im Mittelmeer getöteten und ertrunkenen Flüchtlinge: 2014: 3293; 2015: 4054 (hiervon starben tausend Flüchtlinge in einer Woche!); 2016: 5143; 2017: 3193; 2018: 2299. Insgesamt sind das 18582 Tote. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. Das Mittelmeer ist ein großer Friedhof geworden.
Jetzt ist wieder ein Kind verhungert. Jetzt ist wieder ein Kind verhungert. Jetzt ist wieder ein Kind verhungert…
Man kann diesen Satz Tag und Nacht hintereinander sagen, dann kommt man auf die Zahl der täglich verhungernden Kinder.
Die Flüchtlingspolitik der EU ist zu einem Flüchtlingsabwehrregime geworden. Eine Festung hat sich entwickelt: die Festung Europa.
«Kaum waren die Mauern zwischen Ost und West gefallen, hat Europa damit begonnen, neue Mauern zu bauen. Man fürchtet die Flüchtlinge nicht wegen ihrer Waffen, sie haben ja keine. Sie haben nur das Asylrecht [das ständig ausgehöhlt wird], die Waffe der Schwächsten. Man fürchtet sie wegen ihres Triebes: Sie wollen überleben. Also werden sie behandelt wie Einbrecher, weil sie einbrechen wollen in das Paradies Europa. Man fürchtet sie wegen ihrer Zahl und sieht in ihnen eine Art krimineller Vereinigung.»
Und weiter: Die EU «sichert ihre Grenzen mit einem Netz von Radaranlagen und Satelliten; mit Hubschraubern und Schiffen, die die Flüchtlingsboote abdrängen; mit einer Grenzschutzagentur, die Frontex heißt; und mit einer gewaltigen Mauer aus Paragrafen … Das afrikanische Elend stößt an verschiedenen Stellen mit dem ‹Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts›, wie sich Europa selbst nennt, zusammen … Die EU-Flüchtlingspolitik gilt als erfolgreich, wenn möglichst wenige Flüchtlinge Europa erreichen … Aber: Die Menschenrechte haben Botschafter, es sind die Flüchtlinge. Sie sind die Botschafter des Hungers, der Verfolgung, des Leids.» (Heribert Prantl: Im Namen der Menschlichkeit – Rettet die Flüchtlinge. Berlin 2015. S.?8–13. Eine hervorragende Analyse!)
Was sind das für Menschen, die versuchen, auf eine so unsichere Art und Weise über das Mittelmeer an Orte zu kommen, wo sie auf ein Leben hoffen, das ihnen eine Perspektive gibt?
Es sind Menschen, die arm sind, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren können, so gut wie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, zum Teil verfolgt, bedroht, gefoltert, vergewaltigt worden sind. Es sind Menschen, die darauf hoffen, die Not hinter sich lassen zu können.
Es gibt Menschen und Gruppen, die die Flüchtlinge unterstützen. Sie haben Rettungsschiffe gekauft, mit denen sie versuchen, Menschen aus den unsicheren Booten zu retten. Die meisten Länder haben inzwischen Verbote erlassen, dass diese Schiffe an ihren Küsten nicht anlegen dürfen. Die Schiffe werden beschlagnahmt, deren Betreiber mit hohen Geldstrafen und Gefängnis bedroht.
Armut und Kolonialismus
Ein Wort ist an Zynismus kaum zu überbieten, es wird von vielen VertreterInnen unserer offiziellen Politik gebraucht, es ist ein Wort bei dem mir übel wird: «Wirtschaftsflüchtlinge». Wer ist für die Entwicklung der Wirtschaftssysteme verantwortlich? Wer sorgt z.B. mit dem Export von minderwertigen Nahrungsmitteln dafür, dass die einheimische Wirtschaft, die Bauern ihre Produkte nicht mehr loswerden? Wer plündert die Ressourcen aus?
In unserer globalisierten Welt verbraucht heute ein Fünftel der Weltbevölkerung vier Fünftel des gesellschaftlichen Reichtums. Alle drei Tage sterben so viele Kinder wie beim Abwurf der Atombombe auf Hiroshima Menschen gestorben sind. Sie sterben an Hunger, am Mangel an sauberem Wasser und am Vorenthalten von Medikamenten für Krankheiten, die leicht heilbar wären. Man kann es auch anders sagen: Jetzt ist wieder ein Kind verhungert. Jetzt ist wieder ein Kind verhungert. Jetzt ist wieder ein Kind verhungert?… Man kann diesen Satz Tag und Nacht hintereinander sagen, dann kommt man auf die Zahl der täglich verhungernden Kinder.
Wann zahlen wir endlich unsere Schulden, die sich durch die Kolonialpolitik des Westens in Jahrhunderten angesammelt haben?
In der Geschichte Europas liegt der größte Teil der Ursachen für die Misere. Die Landung von Christoph Kolumbus am 12.Oktober 1492 in den Amerikas ist weniger das Datum einer «großen Entdeckung», sondern der Beginn von Ausbeutung, Unterdrückung, Sklaverei und jeder Art Verbrechen an der Urbevölkerung der Länder.
Offiziell sind die Länder nicht mehr Kolonien. Einheimische PolitikerInnen sind an die Macht gekommen, orientiert an der Art der Regime, die das Schicksal der Länder über lange Zeit bestimmt haben. Sie gehen Verbindungen mit globalisierten Konzernen ein, die nach wie vor die Ressourcen der Länder ausplündern. «Der Westen hat die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Werte erobert, sondern durch seine Überlegenheit beim Anwenden von Gewalt. Westler vergessen diese Tatsache oft, Nichtwestler nie.» (Samuel Huntington, zitiert nach: Jürgen Todenhöfer: Inside IS. 10 Tage im «Islamischen Staat». München 2015.)
Afghanistan
In Afghanistan ist seit über 35 Jahren Krieg. Verursacht durch unterschiedliche Mächte, von Großbritannien über die Sowjetunion bis zu den USA. Dabei sind etwa 2 Millionen Menschen umgebracht worden. Die Gier, dieses Land ausbeuten zu können, ist riesig. Die Bundesrepublik Deutschland ist jetzt seit vielen Jahren am Krieg in Afghanistan mit Soldaten beteiligt.
Neben Öl und Gas gehört heute Lithium zu den absolut begehrten Ressourcen. Der Stoff, aus dem die Träume sind, ist silberweiß und weich und er entzündet sich in Verbindung mit Sauerstoff schon bei Raumtemperatur. Wegen seiner hohen Energiedichte wird das Alkalimetall in Batterien als Anode verwendet.
Die Nachfrage der Laptop-, Mobiltelefon- und Autoindustrie steigt rasant. «Jetzt könnte das kriegsverwüstete Afghanistan, eines der ärmsten Länder der Welt, zum ‹Saudi-Arabien des Lithiums› werden.» So schreibt das Pentagon in einem internen Bericht zu den gewaltigen Mineralvorkommen im Land am Hindukush, aus dem die New York Times zitiert. Darin geht es um unberührte Bodenschätze im Wert von nahezu einer Billion Dollar (825 Milliarden Euro), die US-amerikanische Geologen in Afghanistan entdeckt haben.
Daneben gibt es noch Eisen, Kupfer, Kobalt und Gold. «Das Potenzial ist atemberaubend», sagte General David H. Petraeus, Oberkommandierender der US- und NATO-Truppen und Chef des Central Command der New York Times. Jalil Jumriani, ein Berater des afghanischen Bergbauministers, ist euphorisch: «Das wird das Rückgrat der afghanischen Wirtschaft.»
Jeden Tag gibt es Attentate und militärische Auseinandersetzungen mit verschiedenen Widerstandsorganisationen. Trotzdem versucht die Bundesregierung, hier lebende Flüchtlinge zurück nach Afghanistan zu schicken. Das Grundrecht auf Asyl, das in der Verfassung steht, wurde in den letzten Jahren ständig beschnitten. Die Anzahl derjenigen, die Asyl bekamen, wurde permanent reduziert.
Ein großer Teil der Menschen, die versuchen, als Flüchtlinge hierher zu kommen, sind zwischen die Fronten geraten. Sie sind durch direkte Kriegshandlungen bedroht. Diese sind verbunden mit Armut und Leid, einer unvorstellbaren Zerstörung des Lebens, der Häuser, Schulen, Krankenhäuser, der Infrastruktur. Die Lebensmittelproduktion ist so heruntergekommen, dass sie den Bedarf nicht im geringsten decken kann. Durch die Kriege sind die Wirtschaften der Länder handlungsunfähig geworden.
Für die Beschreibung des Hungers, des Fehlens medizinischer Versorgung, der mangelnden Ausbildung der Kinder reicht meine Sprache nicht aus. Es ist mehr als verständlich, dass die Menschen versuchen, aus dieser Situation zu entkommen.
Das sind die Passagiere auf den «Alptraumschiffen», denen verwehrt wird, in europäischen Häfen an Land zu gehen. Sie sind zur selben Zeit wie die Passagiere auf den «Traumschiffen» im Mittelmeer zu finden.
* Ellen Diederich ist eine langjährige Aktivistin der Frauen- und Friedensbewegung. Sie arbeitet mit an der Webseite https://hinter-den-schlagzeilen.de/.
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