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Europa 10. Dezember 2019

Appell von jüdischen Hochschullehrer*Innen an die französischen Abgeordneten
aus Le Monde*

Ein Kollektiv von 127 jüdischen Intellektuellen der ganzen Welt ruft die französischen Abgeordneten auf, dem vorliegenden Vorschlag einer Resolution gegen den Antisemitismus nicht zuzustimmen. Dieser Text bringt den Antisemitismus und Antizionismus miteinander in Verbindung, was „hoch problematisch“ ist.

Die Abgeordneten sollen sich am 3. Dezember zum Vorschlag einer Resolution äußern, der von dem Abgeordneten Sylvain Maillard von La République en marche (LRM) (Partei von Präsident Macron, d.Ü.) eingebracht wurde. Dieser kontroverse Text schlägt vor, Frankreich solle dem Europäischen Parlament folgen und die Definition von Antisemitismus übernehmen, wie sie die „Internationale Allianz zum Gedenken an den Holocaust“ (IAGH) 2016 erarbeitet hat. Dort steht – wie es der Text von Sylvain Maillard übernimmt – „dass Bezeugungen des Hasses gegen den Staat Israel, die allein mit seiner Wahrnehmung als jüdisches Kollektiv begründet werden“, antisemitisch sind. Bei einem Abendessen mit Menschen des Conseil représentativ des institutions juives de France (CRIF) hat Macron gesagt, er sei für die Annahme dieser Resolution und geurteilt, „der Antizionismus stellt eine der modernen Formen des Antisemitismus dar“. (…)

Wir – jüdische Hochschullehrer und Intellektuelle aus Israel und anderen Ländern – von denen viele Spezialisten des Antisemitismus, der Geschichte des Judentums und des Holocaust sind, erheben unsere Stimme gegen die Verabschiedung des Resolutionsvorschlages.

Der weltweite Anstieg des Antisemitismus, auch in Frankreich, beunruhigt uns zutiefst. Wir betrachten den Antisemitismus und alle anderen Formen von Rassismus und Xenophobie als reale Bedrohung, gegen die es mit allergrößter Entschlossenheit zu kämpfen gilt; wir fordern die französische Regierung und das Parlament auf, dies zu tun.

Wir betonen unsere Besorgnis, wenden uns aber aus zwei grundsätzlichen Erwägungen gleichzeitig gegen die vorliegende Resolution zum Antisemitismus, und wir rufen die Parlamentsabgeordneten dazu auf, sie nicht zu unterstützen.

  1. Verbindet der Vorschlag den Antizionismus mit dem Antisemitismus. Er assimiliert sogar den Antizionismus mit dem Antisemitismus durch die Aussage, „die Existenz Israels als Gemeinschaft jüdischer Bürger zu kritisieren, bedeutet Hass gegen die jüdische Gemeinschaft insgesamt zu äußern“.

Bevor wir mit unserer Argumentation fortfahren, möchten wir bedauern, dass das Exposé Israel als „Kollektiv jüdischer Bürger“ benennt; aber etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung sind Palästinenser, von denen die meisten Muslime oder Christen sind. Die gewählte Darstellung verdeckt, ja verneint ihre Existenz, was wir als hoch problematisch ansehen. Dies auch im Hinblick auf die Bemühungen Ihres Landes, zu einer Definition der französischen Staatsbürgerschaft zu gelangen, die nicht auf Ethnizität beruht.

Unsere Meinungen zum Zionismus gehen durchaus auseinander, doch meinen wir – auch diejenigen, die sich als Zionisten begreifen -, dass das genannte Amalgam grundsätzlich falsch ist. Denn viele Juden und Jüdinnen sehen sich als Antizionisten; für sie ist das Amalgam (von Antizionismus mit Antisemitismus) eine Beschimpfung!

In der jüdischen Geschichte stellt der Antizionismus eine legitime Ansicht dar; er hat eine lange Tradition, sogar in Israel. Gewisse Juden wenden sich aus religiösen Gründen gegen den Zionismus, andere aus politischen oder kulturellen Gründen. Zahlreiche Opfer des Holocaust waren Antizionisten. Der Resolutionsvorschlag entehrt sie und beschimpft ihr Andenken, weil er sie im Nachhinein als Antisemiten benennt.

Für die Palästinenser stellt der Zionismus Enteignung, Vertreibung, Besatzung und strukturelle Ungleichheit dar. Sie wenden sich gegen den Zionismus nicht aufgrund von Judenhass, sondern weil sie den Zionismus als unterdrückerische politische Bewegung erleben. So zu handeln bedeutet ein großes Fehlen von Sensibilität und eine Politik mit zwei Gewichtungen und Maßnahmen, weil man weiß, dass Israel das Existenzrecht der Palästinenser leugnet und sogar ihre Existenz unterminiert.

Zweifellos gibt es Antisemiten unter den Gegnern des Zionismus. Aber es gibt auch viele Antisemiten, die den Zionismus unterstützen! Es ist daher unangebracht und ganz und gar ungenau, auf so allgemeine Weise Antisemitismus und Antizionismus in Eins zu setzen. Sofern sie die beiden Phänomene verbände, würde die Nationalversammlung die lebendigen Bemühungen des Kampfes gegen die wirklichen Antisemitismus, der viele Dimensionen hat und aus den verschiedensten Sektoren der französischen Gesellschaft kommt, kompromittieren.

Ein problematischer Vorschlag

Unser zweiter Einwand ist, dass die geplante Resolution die Definition der „Internationalen Allianz zum Gedenken an den Holocaust“ (IAGH) übernimmt. Diese Definition ist hoch problematisch. Die Resolution behauptet, „so genau wie möglich den gegenwärtigen Antisemitismus bezeichnen“ zu können. Doch tatsächlich ist die Definition unklar und unpräzise, und kann daher kein geeignetes Instrument des Kampfes gegen den Antisemitismus darstellen. Andererseits gibt es in Frankreich bereits gesetzliche Vorschriften zum effizienten Kampf gegen den Antisemitismus.

In der Begründung des Resolutionsvorschlages steht, die Definition des IAGH sieht „in der Kritik der Politik des Staates Israel keinen Antisemitismus“. Jedoch wurden in der Begründung mehrere „Beispiele von Antisemitismus aus der Gegenwart“ genannt, die die Kritik und Gegnerschaft gegen die Politik des Staates Israel mit dem Antisemitismus in Verbindung bringen. Diese Beispiele sind als integraler Bestandteil der Definition zu verstehen.

Nach den Beispielen und der Darlegung ihrer Anwendung genügt es, Israel auf eine Weise, die von der Kritik anderer Staaten abweicht, zu kritisieren, um als Antisemit angesehen zu werden. Es genügt, sich für eine Zwei-Staaten-Lösung oder eine demokratische Lösung des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern auszusprechen, um als Antisemit zu gelten. Das gilt auch, wenn man Israel des institutionellen Rassismus beschuldigt. Natürlich muss man mit diesen Aussagen nicht einverstanden sein. Doch diese Aussagen müssen als legitim angesehen und durch die Freiheit der Meinungsäußerung geschützt sein. Somit schafft die Resolution einen ungerechtfertigten doppelten Standard zugunsten Israels und gegen die Palästinenser.

Die Definition des IAGH wird bereits benützt, um die Kritik am Staat Israel zu stigmatisieren und zum Schweigen zu bringen

Schweigen zu bringen, vor allem gegen Menschenrechtsorganisationen und respektierte Expert*innen. Bedeutende Spezialisten des Antisemitismus haben diese Situation bereits verurteilt. Der US-amerikanische Anwalt Kenneth Stern, einer der ursprünglichen Verfasser der Definition des IAGH, hat sich ebenfalls gegen ihren Gebrauch gegen die Meinungsfreiheit ausgesprochen.

Die Schlüsselfrage ist folgende: Warum all dieser Aufwand? Wir können ihn nicht unabhängig von der politischen Agenda der israelischen Regierung betrachten, die bestrebt ist, die Besetzung und Annexion Palästinas zu verteidigen und alle Kritiker dieser Politik zum Schweigen zu bringen.

Seit Jahren denunziert die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu jeder politische Opposition als antisemitisch. Netanjahu hat persönlich entschieden, die Verbindung von Antisemitismus und Antizionismus, sowie die Definition des IAGH zu verteidigen. Das zeigt, auf welche Weise der Kampf gegen den Antisemitismus instrumentalisiert wurde, um die israelische Regierung zu schützen.

Mit großer Beunruhigung stellen wir fest, dass diese Bemühungen der israelischen Regierung politische Unterstützung finden, auch in Frankreich. Wir laden die Nationalversammlung ein, gegen den Antisemitismus und alle Formen des Rassismus zu kämpfen, aber ohne der israelischen Regierung in ihrem Programm der Besatzung und Annexion zu helfen.

Instrumentalisierung

Der Resolutionsvorschlag stellt kein glaubwürdiges und wirksames Mittel des Kampfes gegen den Antisemitismus dar. Dieser muss auf universeller Grundlage bekämpft werden – wie alle anderen Formen des Rassismus und der Xenophobie. Die Aufgabe dieses universalistischen Vorgehens würde zu zunehmenden Spannungen führen, die auch dem Kampf gegen den Antisemitismus schaden werden.

In diesem Rahmen stellen wir fest, dass der Resolutionsvorschlag sich auch im Gegensatz zum Vorschlag der nationalen Beratungskommission der Menschenrechte (CNCDH) befindet. In ihrem Bericht von 2018 über den Kampf gegen den Rassismus hat die CNCDH erklärt, die Definition der IAGH schwäche das universelle französische Vorgehen im Kampf gegen den Rassismus. Sie insistiert auf die „Wachsamkeit, nicht den Rassismus mit der legitimen Kritik am Staat Israel und seiner Politik“ zu vermischen.

Wir bitten die Nationalversammlung, die Resolution zu verwerfen, weil sie Antizionismus und Antisemitismus vermischt. Unterstützen Sie keine Resolution, die die politische Antisemitismus-Definition des IAGH anerkennt, und dies umso mehr, als sie problematische Aussagen zu Israel enthält.

Erstunterzeichner*innen: Prof. Jean-Christophe Attlas, Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für mittelalterliches jüdisches Denken, Ecole pratique des hautes Etudes, Paris; Prof. Jane Caplan, Prof. für moderne europäische Geschichte, Universität Oxford; Prof. Alon Confino, Direktor des Instituts für Studien zum Holocaust, Völkermord und Gedächtnis, Universität von Massachusetts; Tamar Garb, Prof. für Kunstgeschichte; Durning Lawrence, Direktorin des Instituts für fortgeschrittene Studien der Human- und Sozialwissenschaften, Universität London; Prof. Sonia Dayan-Herzbrun, sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Paris-Diderot; Prof. Amos Goldberg, Abteilung Geschichte des Judaismus in Vergangenheit und Gegenwart, hebräische Universität Jerusalem; Prof. David Harel, Bereich Informatik und angewandte Mathematik, Weizman-Institut Paris; Prof. Amnon Raz-Karkotzkin, Prof. für jüdische Geschichte; Prof. Alice Shalvi, Anglistik-Department der hebräischen Universität Jerusalem und der Ben-Gurion-Universität des Negev; Prof. Joan Wallach Scott, Institute for Advanced Studies, Princeton; Prof. David Shulman, Department für Asienstudien, hebräische Universität Jerusalem; Prof. Zeev Sternhell, Lehrstuhl Léon Blum und hebräische Universität Jerusalem.

* Nach: Le Monde, 3. Dezember 2019

Übersetzung: Paul B. Kleiser

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