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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2019

Osmanisches Reich im Ersten Weltkrieg
von Paul B. Kleiser

Mirko Heinemann: Die letzten Byzantiner. Die Vertreibung der Griechen vom Schwarzen Meer. Eine Spurensuche. Berlin: Chr. Links, 2019. 263 S., 25 Euro

Der Erste Weltkrieg führte zum Zerfall der beiden wichtigsten multiethnischen Imperien, des Habsburger- und des Osmanischen Reiches. Außer auf die jeweilige Dynastie gründeten sie sich vor allem auf die Religion (Katholizismus und Islam).
Im Osmanischen Reich beherrschten Christen (Armenier) und Juden weitgehend den Handel und die handwerklichen Berufe; sie stellten die aufkommende Bourgeoisie der größeren Städte. Die Desintegration der Reiche erfolgte unter dem Druck verschiedener nationaler Bewegungen, die (zunächst in den Oberschichten) eine neue «nationale» Identitätsausbildung anstrebten.
Dieser in Europa und Kleinasien wirkende Prozess zerstörte schließlich das nach 1453 auf den Trümmern von Byzanz errichtete «Millet-System» des Osmanischen Reiches, das den verschiedenen Religionsgruppen (besonders Armeniern, Griechen und Juden) eine weitreichende Selbstverwaltung eingeräumt hatte – vorausgesetzt, sie bezahlten Steuern und ordneten sich der islamischen Herrschaft des Sultans unter.
Der Zerfall der beiden Reiche führte in Kleinasien und auf dem Balkan («Balkankriege» 1912/13) zu blutigen Kämpfen und Konflikten, die teilweise bis heute weitergehen. Denn in Gebieten, in denen zahlreiche Volksgruppen oft seit Jahrhunderten lebten, konnte eine «ethnische Homogenisierung» als Grundlage neuer Nationalstaaten nur mittels brutaler Gewaltorgien durchgesetzt werden.
Am schlimmsten traf es die Armenier, die man nach Beginn des Ersten Weltkriegs verdächtigte, die fünfte Kolonne der Russen zu sein. Sie wurden aus der Schwarzmeerregion auf Todesmärschen nach Anatolien vertrieben oder gleich umgebracht; etwa 1,5 Mio. Menschen starben oft einen qualvollen Todes. Den deutschen Militärberatern der «Hohen Pforte», aber auch Diplomaten, Ärzten, Krankenschwestern und Geistlichen war das durchaus bekannt. Franz Werfel hat dem Leidensweg der Armenier mit seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Nazis sahen in der «Endlösung der Armenierfrage» ein Vorbild für ihre Politik gegenüber den Juden.
Der Autor von Die letzten Byzantiner, Mirko Heinemann, hatte eine griechische Großmutter aus dem Pontos (am Schwarzen Meer gelegen). Außer in Griechenland lebten Millionen Griechen im Großraum Smyrna (heute Izmir) und eben in der Schwarzmeerregion westlich von Georgien mit der Hauptstadt Trapzunt (Trabzon). Nach 1920 strebten sie kurzzeitig eine eigene Republik an.
Heinemanns Großmutter starb 1975 in Mönchengladbach, als er noch klein war; 2016 machte er sich auf ihren Spuren (sie stammte aus Ordu und wurde von einem russischen Schiff gerettet) auf die Reise an die Schwarzmeerküste und nach Istanbul (früher Konstantinopel). Unter den «Gastarbeitern», die man ab den 1960er Jahren in die BRD holte, waren besonders viele Pontosgriechen.
Das Buch stellt eine gelungene Mischung aus Reisebericht und Spurensuche dar. Heinemann hat einen Gutteil der Literatur über die Vertreibung (und häufig Beraubung und Ermordung) der Griechen aus Kleinasien eingearbeitet.
Schon in der Zeit der «Jungtürken» (1908–1912) gab es zahlreiche Übergriffe auf Juden und die christlichen Volksgruppen. Als Hauptverantwortliche für die Massaker an den Armeniern sind Innenminister Talat Pascha und Kriegsminister Enver Pascha zu nennen. (Beide wurden später von Armeniern erschossen.) Die Brutalität steigerte sich, als sich das Osmanische Reich 1914 den «Mittelmächten» unter Führung des Deutschen Reiches anschloss.
Die Kämpfe nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Gründung der «modernen Türkei» durch Mustafa Kemal «Atatürk» 1923 führten schließlich zum sog. «Bevölkerungsaustausch», der im Abkommen von Lausanne vereinbart wurde – es trägt die Unterschrift von Premier Lloyd George, Atatürk und Venizelos. Etwa 400000 «Türken» (gemeint: Muslime) wurden dabei aus Griechenland in die Türkei «umgesiedelt», 1,2 Millionen Griechen (Orthodoxe) aus dem Großraum Smyrna/Milet und dem Pontos, wo sie fast 3000 Jahre gelebt hatten, nach Griechenland – häufig unter grauenvollen Bedingungen.
Ihre Nachkommen bevölkern heute ganze Stadtteile von Athen und größere Teile der Nordprovinzen sowie die Insel Lesbos; Heinemanns Großmutter landete schließlich in Kavala. Das Buch setzt den Heimatvertriebenen ein Denkmal.

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